Kleine Portionen
sein.«
»Öh … gerne, ja.«
»Na dann auf geht’s. Ich bin die Sabine.«
Du wachst auf und bist schwul
Die Situation wirkte wie ein launischer Scherz. Ein Scherz, den Gewalten beschlossen hatten, die sich meiner Kontrolle entzogen. Ich wachte einfach eines Morgens auf, erblickte den halb nackten Burschen, der neben mir schlief, fühlte seinen warmen Körper; sein Atem streifte meinen Arm. Ich begriff, dass ich ihm wenige Stunden zuvor, mitten in der Nacht, im Schutz der Dunkelheit und angetrieben von der Nähe und meinem übervollem Herzen gestanden hatte, dass ich in ihn verliebt war. Ich begriff plötzlich, dass ich damit bloß die Wahrheit gestanden hatte. Ich erkannte, dass eine besondere Ereigniskette eintreten hatte müssen, damit ich einsah, was an und für sich offensichtlich war. Ich war in einen jungen Mann verliebt.
Einen schwulen jungen Mann.
Ich war schwul.
Ein Leerraum war gefüllt worden. Eine unausgesprochene Frage beantwortet.
Die spezielle Ereigniskette war diese gewesen. Andreas und ich hatten uns am Vorabend verabredet. Es war ein warmer, weicher, unbeschwerter, leichtköpfiger Abend gewesen. Wir hatten geplant, ins Kino zu gehen, um uns Derek Jarmans »Edward II.« anzusehen, seine persönliche Interpretation des Christopher Marlowe-Stücks aus dem 16. Jahrhundert. Die göttliche Tilda Swinton als Königin Isabella. Steven Waddington spielte den König, Andrew Tiernan seinen Geliebten Piers Gaveston. Annie Lennox hatte in einer besonders rührenden Szene einen Gastauftritt als Sängerin.
Ich ging ungewarnt ins Kino. Es gab kein Vorzeichen dafür, was an diesem Abend geschehen sollte. In den letzten Monaten hatten Andreas und ich eine Menge gemeinsam unternommen. Er hatte sich von seinem langjährigen Freund getrennt. Er brauchte jemanden zum Reden. Ich hörte ihm zu. Versuchte, ihn abzulenken.
Ablenkung, an diesem Abend, hatte Kino bedeutet. Mein Augenblick der Offenbarung kam, als Gaveston gezwungen war, seinen Geliebten, den König, zu verlassen. Die beiden tanzten in zärtlicher Umarmung, während Annie Lennox eine traurig-melancholische Version des Cole Porter-Lieds »Every time we say good-bye, I die a little. Every time we say good-bye, I wonder why a little [1] …« sang. Und da, in der Dunkelheit des Kinos, während der Film sich auf meinem plötzlich unruhigen Gesicht widerspiegelte, zerfloss etwas in mir. Ich fühlte mich überglücklich. Ich fühlte, wie mich Ameisen im Bauch kitzelten. Ich spürte mein pochendes Herz, meine liebevolle Seele, feuchte Hände, nervös zuckende Beine.
Nach dem Film gingen wir ein Glas trinken. Wir landeten in einer dieser Studentenkneipen mit zusammengestoppelten Möbeln und jungen, leichtfertigen Kellnern. Wir quatschten über den Film und quatschten und quatschten. Ich beobachtete, wie sich Andreas Mund bewegte, entdeckte ein paar Brusthaare, die aus dem Ausschnitt seines bunten T-Shirts hervorlugten. Ich fühlte mich ihm so nah, mein Herz war so voller Liebe, dass ich dachte, es würde jeden Moment platzen. Alles kam mir verstärkt vor, das gedämpfte Licht in der Bar schien plötzlich heller, die Luft rauchiger. Ich fühlte mich außerordentlich lebendig.
Es war sehr spät, zu spät für den letzten Bus oder die letzte Straßenbahn. Ich schlug vor, Andreas solle bei mir übernachten. Zu Hause zogen wir uns aus und schlüpften in unserer Unterwäsche unter die Decke. Ich war so nervös, dass ich zitterte. Schließlich schaltete ich das Licht aus.
In dem Augenblick platzte mein Mitbewohner herein. Erblickte uns zwei Burschen in meinem Bett. Fragte mich scharf: » Bist … bist du jetzt auch schwul oder was?«
Wir lachten ihn aus. Ich winkte ab. Sagte, er rede Unsinn. Sagte ihm, er solle wieder schlafen gehen.
Und nachdem er die Tür zu seinem Zimmer geschlossen hatte, flüsterte ich diese Worte. Worte, die mein Leben für immer verändern sollten. Worte, die zum ersten Mal in Jahren die Wahrheit ausdrückten. »Ich muss dir etwas sagen!«, flüsterte ich in die Dunkelheit, in der Hoffnung, Andreas würde mich hören. »Ich glaube, ich bin’s. Schwul, meine ich. Und ich bin in dich verliebt!«
[1] »Jedes Mal, wenn wir uns auf Wiedersehen sagen, sterbe ich ein wenig. Jedes Mal, wenn wir uns auf Wiedersehen sagen, frage ich mich ein wenig, warum …«
Worte
Du schwimmst in einer Welt aus Worten. Stumme und stille und unausgesprochene Worte. Es gibt niemanden, dem du diese besonderen Worte sagen kannst.
Du hast mit deiner
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