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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moitzi
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Schwester gesprochen, das hast du schon getan. Du hast ihr gesagt, was passiert ist. Du hast ihr diese außerordentliche Nacht erklärt. Du bist in ihrer kleinen Wohnung auf dem Sofa gesessen. Du hast den Weißwein geschlürft, den sie für dich gekauft hat. Deine Schwester, immer da, wenn du sie brauchst. Die immer ein offenes Ohr für dich hat, immer versucht, dich zu verstehen. Die Worte sind ungehindert geflossen, sind aus deinem Mund geströmt, haben sich überschlagen. Sie hat genickt, deine Schwester, hat freundliche Fragen gestellt. Sie ist nicht schockiert gewesen, sie war bereit, deine Beichte zu hören. Sie hatte sich bereits aus den Brocken und Stücken, die du ihr zuvor angeboten hattest, ihren Reim gemacht. Sie hat dein neues Selbstverständnis umarmt, so wie du es getan hast. Sie ist tapfer gewesen, deine Schwester.
    Aber deine Worte sind nicht für sie bestimmt gewesen. Ihm hast du sie sagen wollen. Du wolltest, dass er dir zuhört. Du wolltest ihn an deiner Seite.
    Du willst ihn. Punkt.
    Aber er ist verschwunden. Die Großstadt hat ihn verschluckt. Du wirst ihn nie finden.
    Du blickst aus dem Fenster. Die Sonne steht hoch am Himmel, badet in goldweißem Licht Häuser und Straßen und Autos und Busse und Bäume und Parks und Denkmäler und Statuen und Menschen. Tausende und Tausende von Menschen, die ihr Leben leben. Die gerade jetzt ihre eigenen, besonderen Augenblicke erleben. Er ist unter ihnen, irgendwo da draußen.
    Du weinst. Du zitterst. Dein Magen krampft sich zusammen. Du hast tagelang nichts gegessen. Seit er dich mit deinen ungesagten Worten allein gelassen hat. Sie ziehen dir durch den Kopf, stoßen sich gegenseitig an, klopfen gegen die Wände deines Hirns. Du möchtest schreien, du möchtest wie ein verwundeter Wolf aufheulen.
    Die Stadt ist so lebendig, pulsiert vor Ereignissen und Augenblicken und Situationen. Das Leben da draußen geht weiter, Blut rauscht durch unzählige Adern. Du möchtest ein Teil davon sein, doch du glaubst nicht, dass du es schaffst. Du möchtest ganz viele Sachen machen, du möchtest durch die Straßen laufen, deine Lungen mit der späten Frühlingsluft füllen, den Fliederduft im Prater riechen, die Rosen im Schönbrunner Park bewundern, auf dem Naschmarkt Oliven und weißen, türkischen Käse berühren und saftige Äpfel. Du möchtest über den eigenartigen Mann in der U-Bahn lachen, du möchtest die Fiaker durch die Innenstadt rollen sehen, du möchtest mit den japanischen Touristen vor der Hofburg stehen, du möchtest mit der Gruppe pinkhaariger amerikanischer Witwen fotografiert werden, denen du durch den Graben gefolgt bist.
    Aber du sitzt bloß da, zitterst auf deinem Sessel. Du blickst aus dem Fenster, ohne die Außenwelt wirklich sehen. Deine innere Welt ist zu voll, zu verwirrt, zu chaotisch. Du fühlst dich miserabel. Dein Magen krampft sich zusammen. Du bist hungrig, aber nicht in der Lage zu essen. Dein Blick ist gequält, dein Gesicht leer.
    Du hasst die Stadt, weil sie so lebendig ist. Du liebst die Stadt deswegen aber auch. Du hast noch nicht gelernt, wie du damit umgehen sollst. Du weißt nicht, ob du es jemals lernen wirst.
    Er hat dich ganz allein gelassen. Er hat dich mit zu vielen Gefühlen allein gelassen. Zu vielen Widersprüchen. Zu vielen Worten.

Im Donaupark
     
    Die Hauptattraktion im Donaupark war und ist der Donauturm. 250 Meter hoch, schlank, aus Beton, mit einer Aussichtsplattform und zwei Restaurants ganz oben. Mein Vater und ich fuhren mit dem Hochgeschwindigkeitsaufzug zur Aussichtsplattform hinauf. Wir besuchten die kreisförmigen Restaurants, die sich langsam um den Turm drehten. Von der Plattform hatten wir einen wunderbaren Ausblick über die Stadt, die sich unten ausbreitete, während die Donau unablässig zur ungarischen Grenze floss und der warme Wind über unsere Gesichter prickelte.
    Danach setzten wir uns auf einen Kaffee in das kleine, aber sündteure Café am Fuße des Turms. Ich bestellte einen Mohr im Hemd. Wir unterhielten uns über den Park, über Wien, über meine Fortschritte an der Uni. Wie ein Leibwächter, wie ein Betonpfeil ragte der Turm neben uns in den sauberen Sommerhimmel. Die exotischen Bäume in den frischen, grünen, makellos gemähten Wiesen öffneten ihr Äste weit, als ob sie die Spaziergänger umarmen wollten. Wir schauten den gut gekleideten Paaren nach, den wohl erzogenen Kindern, die herumliefen. Alles sah unschuldig, perfekt, problemlos und unverklemmt aus. Es hätte vollkommene Harmonie

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