Kleine Portionen
Freundin ist gekommen.
Ich stolpere über zwei Halbwüchsige, die, als sie mich sehen, laut auflachen. »MOBY!«, schreiben sie und lachen wieder. Ich muss grinsen und klicke auf Weiter. Kurz unterhalte ich mich mit einem australischen Großvater, der gerade seine Enkel besucht. »Grüß mir die Kängurus«, gebe ich ihm mit.
Ich chatte dann mit einem jungen, holländischen Studenten. Er wohnt in Eindhoven. »Hallo Glatzkopf!« ist seine Begrüßung.
»Hey, ich bin nicht glatzköpfig, ich bin rasiert«, antworte ich.
»Das ist doch dasselbe«, schreibt er.
»Überhaupt nicht«, stelle ich richtig, »glatzköpfig ist ungewollt, rasiert aber absichtlich, Junge!«
Wir plaudern, bis sein Vater ihn ruft. »Warte mal ein Sekündchen«, tippt er. Nachdem ich die weiße Wand seines Zimmers zehn Minuten lang angestiert habe, zappe ich. Eine weitere Runde mit Schwänzen, lachenden Jungs, Schwänzen, kichernden Mädchen, Schwänzen, stierenden alten Männern, stirnrunzelnden arabischen Jungs, Schwänzen, schüchternen asiatischen Jungs, Postern Marke Eigenbau. Ich seufze und bin mir nicht mehr sicher, ob ich mir nicht besser die traurigen Frauenklagen über Fehlgeburten anhören sollte.
Mormonen in der Métro
Ich fahre mit der Metro Nr. 12 bis zum Gare Saint-Lazare. Als ich mich hinsetze, fällt mir sofort die Gruppe auf. Vier schöne, gut gekleidete, junge Männer in dunklen Anzügen, weißen Hemden, mit geschmackvollen Krawatten, die Haare kurz geschnitten. Jeder von ihnen trägt ein Namensschild. Sie sind nicht nahe genug, als dass ich erkennen könnte, was auf den Schildern steht. Aber ich habe da so einen wohlbegründeten Verdacht. Alles an ihnen weist auf »Amerikaner« und »Sekte« hin. Sie haben dieses besondere Etwas, sind ein wenig zu ordentlich, zu sauber, zu glatt rasiert, zu selbstgefällig, ihr Lächeln ist zu strahlend und nachsichtig, selbst für Amerikaner. Aber sie sind schön, da landen sie bei mir trotzdem einen Gutpunkt.
Dann kommt einer der Männer und nimmt mir gegenüber Platz. Er riecht nach teurem Parfüm. Ich hoffe nur, dass er nicht versuchen wird, mich anzuquatschen. Ich hab so gar keine Lust, einen eifrigen Missionar abzuwimmeln. Aber das Glück ist mir hold. Anstatt mich zu belästigen, öffnet der junge Mann ein Heft und beginnt, eine bestimmte Seite zu lesen. Ich sehe eine riesige Überschrift, mit drei verschiedenfarbigen Textmarkern geschrieben, kann sie aber nicht entziffern. Faszinierend aus graphologischer Sicht. Darunter ist ein Foto schief eingeklebt, mit etwas, das wie ein Brief aussieht, der mit Bleistift rund um das Bild gekritzelt ist; einige Passsagen sind mit den gleichen Textmarkern hervorgehoben. Der Mann fängt an, die Bleistiftzeilen mit einem Kugelschreiber nachzuschreiben. Oh ja, der Text klingt wie ein Brief. Ich lese »Sehr geehrter Herr Dr. Irgendwas«, der Rest ist in Französisch und in Großbuchstaben geschrieben.
Ich schaue auf sein Namensschild. »Elder Bereu« steht drauf. Von der »Eglise de Jésus Christ des Saints des Derniers Jours«. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Da schau her. Ich schiele erneut auf die offene Seite. Nur Großbuchstaben. Der Tick mit den Textmarkern. Die krakelige Handschrift, die eine wahrscheinlich gequälte Seele verrät. Dann schaut Elder mich an und lächelt. »Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagt er mit Akzent, aber sonst in tadellosem Französisch. »Wissen Sie zufällig, wie man ‚franchement‘ schreibt?«
Ich nicke und buchstabiere ihm das Wort. Er nickt auch, dankt und schreibt das Wort unter das Foto. Ich entdecke, dass es sich um ein Gruppenbild handelt, mit Pfeilen, die auf mehrere Köpfe zeigen. »Muro« ist einer der Köpfe; »Dean« ein anderer; »Ich« ein dritter. Ich fühle, wie sich der Oberschenkel des jungen Mannes an meinen schmiegt. Ist das eine diskrete Anmache? Ich bezweifle es. Ich werfe den anderen drei einen Blick zu. Jetzt merke ich, dass sie alle »Elder Sonstnochwas« heißen. Kein Vorname also, sondern ein Titel. Ich schnaube, begutachte die vier wieder, konzentriere mich auf den jüngsten Typen. Jetzt möchte ich mal wissen, ob es mir gelingt, ihn zu verstören. Ich starre ihn ein bisschen länger und ganz offen an. Okay, gewonnen. Er ist verwirrt, errötet sofort und schaut weg.
Ich würde gerne mit ihm flirten. Oder mit dem Mann, dessen Bein gegen meines reibt. Bin ich böse oder was? Ich weiß ganz genau, dass ich für eifrige Gläubige wie die hier nach meinem
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