Kleine Portionen
herrschen können. Und der Kontrast zu meinem inneren Aufruhr hätte nicht stärker sein können.
Ich schwätzte über dumme Nichtigkeiten, idiotische Details, während ich eigentlich nur schreien und Sachen zerschlagen wollte.
Natürlich merkten meine Eltern, dass etwas nicht stimmte. Nach dem Kaffee spazierten wir durch den Park, und meine Mutter lenkte unser Gespräch fachmännisch auf das Thema Homosexualität um. Ich legte meinen Standpunkt dar, nämlich dass es nur eine andere Art sei, wie Liebe zum Ausdruck kam. Meine Mutter machte ihr sehr besorgtes, tränennahes Gesicht. Und mein Vater überraschte mich, als er sagte: »Das ist einfach unnatürlich, Sohnemann! Jeder macht, was er will, das ist schon klar. Aber die Natur will, dass Mann und Frau zusammenkommen, nicht zwei Männer.«
Ich verteidigte meine Meinung lebhaft und wies darauf hin, dass gleichgeschlechtlicher Geschlechtsverkehr sogar zwischen Tieren stattfand. Ich zitierte Beispiele. Meine Mutter bekam fast einen Nervenzusammenbruch. Mein Vater blieb streng: »Ich möchte nicht, dass mein Sohn homosexuell ist! Wenn das eintreten sollte, würde ich einfach keinen Sohn mehr haben!«
Um sie zu beruhigen und das Thema abzuschließen, lachte ich also und sagte: »Aber unsere Diskussion ist ja sowieso bloß rein theoretisch! Ich bin nicht homosexuell, okay?«
Mama umarmte mich, Papa zwinkerte mir erleichtert zu. Eine Sekunde lang hatte ich den Eindruck, dass der Donauturm in der Ferne wackelte. Ich wischte mir eine Träne von der Wange und sagte: »So was Blödes – wozu haben die hier Sand auf die Wege gestreut? Jetzt ist mir doch tatsächlich ein Korn ins Auge geweht …«
Chat Roulette
Am neun rufe ich im Büro an und gebe Bescheid, dass ich krank sei. Dann sehe ich mir das Morgenprogramm im Fernsehen an, während ich meine erste Tasse Kaffee trinke. Ich schlucke ein Aspirin, nur um ganz sicher zu gehen.
Das heutige, französische Morgenthema im Fernsehen: wie man mit einer Fehlgeburt umgeht. Meine Nase läuft, ich niese und huste; die Probleme anderer Leute kann ich mir jetzt wirklich nicht antun. Ich drehe den Fernseher ab, schalte meinen Laptop ein.
Unlängst habe ich diese Online-Werbung für eine Website namens »Chat Roulette« gesehen. Halbherzig klicke ich auf den Link und fummle an meinen Webcam-Einstellungen herum. Die Website funktioniert ganz einfach: Man wird im Zufallsprinzip mit jemandem verbunden und kann dann los-chatten. Nacktheit und Minderjährige sind verboten. Wenn einem das, was man sieht, nicht gefällt, gibt’s dafür den Weiter-Knopf, und man wird mit einer anderen, beliebigen Person verbunden. Hasst man, was man zu sehen bekommt, kann man auf den Sperren-Knopf klicken.
Das erste, was ich sehe, ist ein Mikropenis, der von einer pummeligen Hand kräftig gerieben wird.
Weiter.
Ein junges Mädchen bohrt in der Nase. Ich werde sofort abgeblockt.
Ein arabischer Kerl. Er zappt mich, bevor ich auch nur den kleinen Finger heben kann.
Ein altes Ehepaar beobachtet den Bildschirm mit einem gehetzten Gesichtsausdruck.
Weiter.
Noch ein Pimmel wedelt mich an. Ich Sperre und klicke auf Weiter.
Eine halbe Stunde lang ist das alles, was ich tue. Weiter, Sperren, zapp, gezappt. Ich sehe Schwänze und Jungs und kichernde Mädchen und handschriftliche Zettel, auf denen steht: »Zeig mir deine Möse« oder »Du zeigst mir deine Titten, ich zeig dir meinen Schwanz«. Offensichtlich gibt’s hier keinen Moderator, der auch nur irgendwas überprüft. Ich hoffe nur, die ganz jungen Kinder, die immer wieder über meinen Bildschirm flimmern, stoßen nicht gerade auf einen der faltigen, hoffnungslosen Schwänze, die ich flüchtig erblicke, bevor ich gezappt werde. Einmal sehe ich sogar einen lächelnden Vater mit seiner dreijährigen Tochter auf den Knien. Na, Daddy wird auf seiner Online-Reise noch Wunder erleben!
Endlich ist ein Kerl bereit zu plaudern. Seine ersten Worte: »Ja gibt’s das, du bist normal?!« Er lebt in Nîmes, im Süden Frankreichs. Er wartet auf seine Freundin, also quatschen wir eine halbe Stunde lang freundlich und reibungslos. Er ist Computer-Ingenieur, 25 Jahre alt, ziemlich gut aussehend, soweit ich das beurteilen kann. Hinter ihm ist ein Fenster, und die Sonne blendet, so dass ich nicht viele Details mitbekomme. Außerdem trägt der Bursche Sonnenbrillen. Aber er scheint wirklich nett zu sein. Und normal, was nach all den Gören und Sonderlingen eine willkommene Abwechslung ist. Dann muss er gehen. Seine
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