Kleine Portionen
andere sahen gleichgültig zur gesperrten Straße hin. Franck und ich waren offenbar die einzigen, die das Vorkommnis interessierte.
»Was ist denn los?«, fragte ich. »Eine IRA-Bombe?«
»Fragen wir mal einen Bobby«, schlug Franck vor. Er näherte sich dem nächsten Polizisten, der neben dem Band stand und aussah, als ob er Langeweile zum Lebensstil erhoben hätte.
»Entschuldigen Sie, Sir, aber warum ist diese Straße abgesperrt?«, fragte Franck höflich.
Der Bobby sah ihn kaum an. Seine Antwort brachte es auf den Punkt: »Es passiert hier gerade ein Vorfall.«
Das nenne ich ausweichende Präzision.
»Heaven«
Um 10 Uhr 30 wurde das Licht kurz ausgeschaltet und der Barbesitzer rief: »Letzte Bestellung!« Wir tranken hastig ein letztes Guinness, bevor man uns um Punkt elf hinausschob. Elf Uhr! Das wäre jetzt der Augenblick, wo wir uns in Wien daran machen würden, uns für einen Ausgeh-Abend vorzubereiten. Ziellos schlenderten wir durch die Stra ß en und mampften ein Schinken-Salat-Sandwich, das wir in einer Sandwicheria gekauft hatten. Dann schlugen wir die Richtung der berühmten Eisenbahnbögen unter der Charing Cross-Station ein. Wir hatten geplant, die Nacht im »Heaven« zu beenden.
Die Disko war getreten voll. Unglaublich – in Wien mussten wir oft bis eins in der Früh warten, um so viele Menschen an einem Ort zu sehen.
Ein wunderschöner, muskulöser Gogo-Tänzer tanzte auf einer niedrigen Säule und wackelte heftig mit seinen Hüften, nach vorn, nach hinten, nach vorn, nach hinten. Er war splitternackt, hielt sich nur eine britische Flagge vor die Kronjuwelen.
Carla und ich standen genau unter ihm. Wir hatten einen herrlichen Ausblick auf seine Kugeln und seinen Schwanz, die heftig hin und her schwangen und immer wieder gegen sein verschwitztes Gesäß schlugen, bevor sie den Union Jack vorne mit jedem Aufprall weit ausbuchteten.
Drei Fotos
Das erste Foto zeigt Carla. Sie ist es, die den Fotoapparat mitgebracht hat. Aber irgendwann habe ich ihn ihr einfach weggeschnappt, um ihr Genie für alle Ewigkeit festzuhalten. Wir befinden uns auf dem Camden-Flohmarkt. Schemen verwischen sich unscharf hinter Carla, Kunden, Stände, Verkäufer. Sie begutachtet Schmuckstücke, schaut aber in die Kamera und grinst verschmitzt; ihr langes, braunes, glattes Haar rahmt ihr rundes Gesicht ein, ihre blauen Augen funkeln.
Das zweite Foto zeigt Franck und mich. Wir sitzen in gestreiften Liegestühlen in einem der Parks. Hyde Park? Regent’s Park? Egal. Franck trägt eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und – er muss sich an jenem Morgen rebellisch gefühlt haben – eine blaue Jeansjacke. Seine Augen sind hinter runden John-Lennon-Sonnenbrillen versteckt. Man kann sich einen hellen, sonnenstrahlenden Tag vorstellen. Franck blickt Carla, unsere Fotografin, fragend an. Ich sitze zu seiner Linken, in Jeans und einem schwarz-weiß gestreiften Rollkragenpullover, den ich am Vortag in einem Geschäft in Kensington gekauft habe. Meine Arme sind hinter dem Kopf gekreuzt, während ich leichthin und verträumt ins Leere stiere. Um uns herum ein Dutzend andere Liegestühle, leer.
Das dritte Foto zeigt unseren Frühstückstisch vor einem Schwulencafé in Soho. Das Café liegt in einer kleinen Seitenstraße, die zu einem malerischen Platz führt. Diesmal begnügt sich das Foto wegen Francks Protesten mit mir alleine. Ich trage ein anderes schwarz-weiß gestreiftes Ding, kaue an meinen Toast mit Camembert und Marmelade und wirke nicht wirklich scharf drauf, abgelichtet zu werden. Mein Haar hat einen rötlichen Schimmer, ich bin unrasiert und beäuge das Stück getoasteten Brotes auf meiner Gabel mit etwas, das man für Argwohn halten könnte. Mein Mund ist kauend verzerrt. Doch kann man ein schwaches Lächeln um meine Augen erraten.
Londoner Affäre
Ich traf ihn am zweiten Abend. In einer lauten Schwulenbar in Soho. Franck und Carla waren zur Jugendherberge zurückgegangen. Carla hatte nämlich ihren Rückflug nach Wien um 8 Uhr, und Franck wollte sie zum Flughafen begleiten. Sonst würde sie womöglich noch irgendwo in Kent landen.
Also wartete ich in der Schwulenbar auf ihn und las in der Zwischenzeit einen Roman, den ich am Nachmittag gekauft hatte. Ich genoss die House-Musik und mein Glas Guinness und die gut aussehenden Männer um mich herum.
Ein netter Kerl setzte sich auf den letzten, freien Sessel, der zufällig an meinem Tisch stand. Wir fingen an zu reden, wir fingen an zu flirten, wir
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