Kleine Portionen
baumelt von meinem Ohr. Mein Haar ist kohlschwarz. Ich sehe aus wie eine Mischung aus Dandy und Pirat.
Die Fahrt dauerte zehn Stunden. Wir kamen recht erschöpft an und waren froh, als wir unsere Unterkunft entdeckten, diese stille, viel zu große Wohnung in Charlottenburg in der Nähe des Lietzensees. Es gab mindestens sechs oder sieben Zimmer, darunter einen Musiksalon mit Bösendorfer-Flügel und ausgeklügelter Stereoanlage. Ich brauchte fast anderthalb Tage, bis ich mich im Labyrinth der Wohnung halbwegs auskannte.
Wir durchwühlten die Küchenschränke und fanden tatsächlich ein paar Nudeln, eine Zwiebel, Tomatenmark und Kräuter. Eine Flasche Rotwein. Während wir einer nach dem anderen unter die Dusche sprangen, wurden die Nudeln gekocht, und eine improvisierte Tomatensauce köchelte in einem Topf vor sich hin. Es gibt noch ein Foto, das beweist, dass wir wirklich in Berlin gewesen sind. Es wurde genau in diesem Moment der harmonischen Häuslichkeit geschossen. Es zeigt Francks Rücken – er hatte bemerkt, wie sich Roland an ihn heranschlich, und hatte prompt reagiert – sowie seine zum Protest erhobene Hand. Man erkennt Franck wegen des schwarzen Paul-Smith-Hemds und der dunklen Locken trotzdem, die unter dem Handtuchturban hervorlugen.
Wir speisten zu einem Mandolinkonzert von Vivaldi, das aus den Lautsprechern dröhnte.
Geburtstag
Ein winziger Wassertropfen entwischt dem bleiernen Himmel, blo ß ein Haufen von Molekülen, die sich aneinander klammern, während sie aus den prallen Wolken fallen. Gemeinsam begeben sie sich auf diese Reise ohne Wiederkehr. Die Geschwindigkeit ist Schwindel erregend. Sie sammeln andere Moleküle um sich, rasen nach unten, schnell und immer schneller. Schließlich zerplatzen sie auf der schmierigen Windschutzscheibe eines Peugeot, wo sie eine klare und saubere Linie ziehen.
Der Fahrer des Peugeot, der sich in Serpentinen den Montmartre hinaufquält, vermeidet sorgfältig die Tauben, die in den verwinkelten Gassen sitzen. Wegen der verstopften Straßen in der Innenstadt ist er schon spät dran, und er träumt von seinen Ferien und murmelt: »Verdammter Regen!«, dann: »Verdammte alte Hexe!«, weil eine alte Frau mit einem karierten Einkaufswagen die Straße überquert, ohne auf den Verkehr aufzupassen.
Die alte Dame ist plitschnass; sie hofft, dass der Stoff des Einkaufswagens die Klopapierrollen trocken hält. Sie bleibt an der Ecke stehen, um wieder zu Puste zu kommen, und nutzt den kurzen Halt, um an der durchsichtigen Plastikkappe auf ihren rosa Locken herumzufummeln. Ihre Frisur darf ja nicht zerzaust sein, will sie doch für ihre Enkel am Nachmittag adrett und ordentlich aussehen. Sie wischt einen großen Regentropfen weg, der auf ihre faltige Hand gefallen ist, schlurft dann weiter die schmale Straße hinauf. Sie überlegt kurz, ob sie wohl rechtzeitig nach Hause kommt, um sich die Militärparade im Fernsehen anzusehen. Arme Jungs, denkt sie, müssen diesen Wolkenbruch ertragen, es ist doch immer dasselbe, jedes Jahr regnet es … Im letzten Augenblick fällt der alten Dame ein, dass sie ja noch gar keine Tarte Tatin gekauft hat, also geht sie wieder ein Stück zurück und betritt die hell erleuchtete Bäckerei.
Die Türglocke klingelt fröhlich. Die Verkäuferin, eine plumpe, rotbackige junge Frau, schaut auf, wischt sich die Hände an der weißen Schürze ab und zwitschert in gespielt liebenswürdigem Tonfall: »Guten Morgen, Madame. Was darf es sein?« In diesem Moment kommt ihr Sohn aus dem Hinterzimmer gestürzt. Er schnappt sich ein Pain au chocolat, läuft zur Tür hinaus und ruft über die Schulter: »Bis später, Mama!«, bevor er die Tür zuschlägt.
Der Junge muss dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Er kaut an seinem Pain au chocolat, während er mit Wangen, so rot wie die Wangen seiner Mutter, bergauf sprintet. Seine Füße machen Platsch-platsch-platsch auf dem nassen Pflaster; seine schweren, hastigen Schritte lassen Wasser aufspritzen. Er kann es gar nicht abwarten, das neue Playstation-Spiel auszuprobieren, das sein bester Freund für sein letztes Schulzeugnis bekommen hat. Der Junge rennt beinah in einen würdigen alten Mann hinein, der aus einem Gebäude herauskommt.
Der alte Mann schüttelt den Kopf, seufzt und sagt: »Ah ja, die Jugend!« Dann öffnet er einen großen, schwarzen Regenschirm und überquert den angenehm leeren Platz hinter dem Sacré Cœur, wo es normalerweise vor Touristen nur so wimmelt. Man fühlt sich ja gar
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