Kleine Portionen
fingen an, uns zu küssen. Genau zehn Minuten brauchten wir, um diese drei Etappen zu durchlaufen.
Er war Italiener, sein Name war Raffaele, er war neunzehn Jahre alt, spielte in der italienischen Volleyball-Nationalmannschaft, verbrachte seine zwei Monate Urlaub in London, um korrektes Englisch zu lernen. Er hatte schon große Fortschritte gemacht. Glücklicherweise, denn mein Italienisch umfasst mehr Beleidigungen als Alltags-Redewendungen. Man kann mit »Va fa’n culo!« und »Che cazzo!« allein ja nur bedingt ein Gespräch bestreiten. Nicht, dass ich auf ein Gespräch heiß war. Aber man kann ja, fleischlich gesehen, auch nicht zu weit gehen, selbst in einer Schwulenbar.
Als Franck zu uns stieß, war verbale Kommunikation auf ein striktes Mindestmaß gesunken, Körpersprache hingegen hatte sich in den gleichen Proportionen erhöht. Alles, was mein Freund tun konnte, war den Kopf schütteln, mit der Zunge schnalzen und wegschauen, wenn wir es zu bunt trieben. Wir landeten alle drei in einer Schwulendisko in der Nähe von Covent Garden, wo Raffaele und ich eines der Frauenklos mehr als eine Stunde lang besetzten, um die lüsternen Forderungen unserer Körper zu stillen. Ich glaube, der Junge wollte vögeln, aber keiner von uns hatte einen Gummi dabei. Also begnügten wir uns stattdessen mit etwas weniger erwachsenen Liebesspielen.
Am nächsten Morgen nahmen Franck und ich den Zug nach Dover, wo wir an Bord einer Fähre stiegen.
Agnès b., café »Coste« und »L’Arc«
Agnès b., in der Nähe von Les Halles, war der erste Halt unseres Einkaufsbummels. Franck wollte seinen Vorrat an schwarzen und grauen Hemden, T-Shirts und Pullovern aufstocken.
Im agnès b.-Geschäft gab es nur eine einzige, riesige Umkleidekabine für Männer. Wir standen vor dem Spiegel, Franck in neuen Hosen, ich mit einem neuen, dunklen T-Shirt, wir drehten uns um uns selbst und betrachteten unser Spiegelbild. Ich sah in dem agnès b.-T-Shirt extrem dünn aus. Dennoch fand Franck es taktvoll, mir ein Kompliment zu machen; er meinte: »Das passt dir ja toll. Du musst es unbedingt kaufen!«
Ich antwortete zweifelnd: »Ich weiß nicht so recht. Ich schau aus, als ob ich unlängst von einer sehr langen, sehr schweren Krankheit genesen wäre.«
Wir verbrachten einen Teil des Nachmittags vor dem Café »Coste« in der Rue Berger, nur einen Katzensprung von Les Halles entfernt. Eine modische, größtenteils schwule Kundschaft saß über die Caféterrasse verstreut, die Luft roch nach teuren Parfüms. Jeder übertraf sich in auffälligen Diskussionen, Name-dropping, blasierten Haltungen, man küsste die Luft, wenn jemand Neuer dazukam. Die Toiletten des »Coste« waren auch neckisch; ich pinkelte gegen eine grob gehauene Steinmauer, über die ein Miniwasserfall lief. Sehr postmodern, sehr anspruchsvoll, sehr hirngewichst.
Am Abend versuchten wir unser Glück im »L’Arc« in der Nähe des Arc de Triomphe am oberen Ende der Champs-Elysées. Das »L’Arc« war eine Nobeldisko für die Kinder reicher und/oder berühmter Leute. Die ganzen Porsches, Lamborghinis und Jaguars auf den Parkplätzen rund um die Disko hätten uns eigentlich vorwarnen sollen. Die Türsteherin, ein Frau mittleren Alters, sah aus wie die französische Schauspielerin Annie Girardot. Sie warf bloß einen anerkennenden Blick auf Francks Paul-Smith-Jacke. Mich in meinen Jeans, meinem T-Shirt und meiner Jeansjacke ignorierte sie komplett; sie nickte, und wir waren eingelassen.
Die Disko war lachhaft edel. Mit roter Seide überzogene Wände, weiche Teppiche am Boden, Jungs in weißem Sporthemd, teurem Anzug und Krawatte; Mädchen in unbezahlbaren Prêt-à-porter-Cocktail-Kleidern. Man trank Champagner, man rauchte hauchdünne Zigaretten, man war jung und hip und schön und steinreich und arrogant. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, wie junge Leute in Anzug zu französischer House-Musik in Trillerpfeifen pfiffen.
Auf nach Berlin
Roland, Franck und ich fuhren mit dem 10-Uhr-Zug ab. Binnen kurzer Zeit atmete unser Abteil den besonderen Geruch aus, den ich immer mit Diskos verbunden habe: Es roch nach Alkohol, Rauch und Red Bull. Jeder steuerte etwas dazu bei: Roland hatte eine Flasche Champagner mitgebracht, ich einen Sixpack Red Bull, und alle drei waren wir Raucher. Eines der seltenen Fotos zeigt mich, wie ich vor dem Abteil stehe und lache. Ich trage einen engen, schwarzen Rollkragenpullover, den ich von meiner Schwester ausgeborgt habe. Ein riesiger Ohrring
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