Kleine Schiffe
Luft und wippen ein bisschen auf dem Spielplatz. Zu Hause hat Tina dann die Idee, den Kindern mit Wasserfarben die Händchen zu bemalen und sie auf Papier zu drucken. Die Kinder finden das lustig und »bedrucken« in unglaublicher Geschwindigkeit nicht nur das vorbereitete Papier, sondern auch noch gleich eine Ecke der Küchentapete … Dennoch sind sie sehr stolz, als wir mehrere Blätter mit bunten Händchenabdrucken zum Trocknen in den Flur hängen. Zumindest bilden wir uns das ein – vielleicht sind auch nur wir stolz darauf. »Da haben wir schon ein schönes Geschenk für Papa, Rudi und Helmut zu Weihnachten!«, sage ich. Tina sieht mich nachdenklich an. Wir denken beide an das letzte Weihnachtsfest und dass wir in diesem Jahr Weihnachten ohne Lilli feiern werden. Aber keine von uns sagt ein Wort.
Später sitzen wir wieder im Wohnzimmer und lassen die Kleinen auf dem Teppich zwischen den Spielsachen herumkrabbeln. Tina nimmt ein Kindersöckchen hoch, das sich unter den Tisch verirrt hat, und legt es zusammen. Diese Bewegung erinnert mich daran, wie Lilli an ihrem Todestag in der Küche saß und die Wäsche sortierte, während Papa Erbsensuppe kochte. Wie lange das schon her zu sein scheint. Und ich erinnere mich noch an etwas anderes: An Lillis Ausspruch damals, dass sie am liebsten ein Adoptivkind gewesen wäre. Ich sehe ihr Gesicht vor mir und höre wieder ihre Worte: »Adoptivkinder sind die wahren Wunschkinder.«
Tina rollt einen kleinen Ball zu Amélie hinüber. Dann sagt sie: »Spuck es schon aus.«
»Was?«
Tina lächelt müde. »Ich kenn dich doch, Franzi. Du denkst so laut, dass ich fast etwas höre.«
Ich schüttele den Kopf. »Mir ist nur gerade eingefallen, dass Lilli einmal gesagt hat, sie wäre gern ein Adoptivkind, weil Adoptivkinder die wahren Wunschkinder wären.«
Tina guckt mich erstaunt an. »Das hat sie gesagt?« Sie streichelt Lisa-Marie über den Kopf. »Hör gar nicht hin, mein Spatz. Du warst Lillis absolutes Wunschkind.« Lisa-Marie lacht Tina an. Tina nimmt sie auf den Schoß. Über ihre dunklen Locken hinweg fragt sie mich: »Willst du Lisa-Marie etwa weggeben?«
Ich starre sie entsetzt an. »Natürlich nicht! Ich frage mich nur, ob ich sie behalten darf.«
»Warum nicht? Hast du mit dem Jugendamt schon gesprochen?«
»Noch nicht darüber. Die mussten ja erst einmal klären, ob Davids Eltern ›Interesse an Lisa-Marie‹ haben. Jetzt, wo ich weiß, dass das nicht der Fall ist, hoffe ich natürlich, dass sie bei mir bleiben kann.«
»Warum solltest du sie denn nicht behalten dürfen?«
»Na, erstens bin ich nicht verwandt mit ihr. Zweitens bin ich fast sechsundvierzig und drittens bereits mit einem Kind allein erziehend.«
Tina nickt, sie scheint nachzudenken. Schließlich sagt sie langsam: »Reiß mir nicht gleich den Kopf ab, Franzi. Aber ich finde, diese Gedanken solltest du dir wirklich machen. Das stimmt ja alles. Du gehst auf die fünfzig zu, du bist hier allein, und du hast schon ein kleines Kind. Da mutest du dir natürlich einiges zu.«
»Ja, aber ich kann doch Lisa-Marie nicht weggeben! Sie muss hier bleiben. Bei uns und in ihrem Zuhause!«
Ich verstumme. Lisa-Marie strampelt und will wieder auf den Boden. Tina lässt sie runter und sieht zu, wie sie zu Amélie hinüberkrabbelt. Sie stützt ihr Kinn in die Hände. »Warte doch mal! Denk doch mal nach, was Lilli gesagt hat. Sie wäre gern ein Adoptivkind gewesen … Vielleicht hätte sie sich gewünscht, dass wir ihrer Tochter eine neue Familie suchen?« Ich wehre heftig ab: »Unsinn. Und Lisa-Marie ist ja kein Waisenkind!«
»Doch, ist sie«, widerspricht Tina mir.
»Aber nicht im klassischen Sinn. Sie hat mich, sie nennt mich sogar Mama! Sie hat meinen Vater – Unsinn, sie hat drei Opas. Und dich hat sie auch noch.«
Tina schüttelt den Kopf. »Lisa-Marie hat mich nicht. Das siehst du zu romantisch. Und lass uns doch einmal ernsthaft durchsprechen, wie du das mit zwei kleinen Kindern schaffen willst.« Jetzt ist sie wieder die kühl kalkulierende Geschäftsfrau, verheulte Augen hin, rotgeputzte Nase her. »Finanziell wirst du ja nun von Andreas unterstützt. Wenn alles klappt, kriegst du auch Geld von Davids Eltern. Ich glaube also, es ist kein wirtschaftliches Problem.«
Wir kommen in dieser Diskussion nicht richtig weiter. Andererseits versuche ich mir ernsthaft vorzustellen, wie ich ohne Lilli beide Kinder allein aufziehen soll. Ich habe nur zwei Hände. Und ich halte mich nicht gerade für eine
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