Kleine Schiffe
erwartet habe. Aber ich traue mich nicht, noch einmal nachzufragen. Im Spielzimmer bricht gerade ein Streit um ein Spielzeug aus, und ich muss schlichten. Während ich aufstehe, höre ich Papa im vertraulichen Ton sagen: »Lieber Herr Scherz, bitte ein offenes Wort unter Männern. Wie schätzen Sie das aus Ihrer Erfahrung ein?« Leider kann ich die Antwort nicht hören, weil das Geheule der Mädchen zu laut ist. Aber als ich die Tränen getrocknet habe, die Kinder wieder versöhnt sind und Scherz gegangen ist – nicht ohne eine Tupperdose voll mit Papas Zimtsternen –, frage ich Papa: »Was hat er gesagt? Unter Männern?«
Papa legt sein Kinn auf den Rollkragen. »Er hat gesagt: Das sieht alles sehr gut aus. Und dass er sich für dich einsetzen wird.«
Ich falle ihm um den Hals und gebe ihm einen dicken Kuss. Dann heule ich ein bisschen. Und Papa hält mich fest im Arm.
Diesmal schreibt Andreas zu Weihnachten übrigens nicht nur eine Karte, er schickt ein Paket mit kleinen Jule-Trollen aus Stoff und dänischen Keksen. Über die Feiertage hat er Dienst, und dann feiert er mit seiner Freundin Mette.
Wir rücken in diesem Jahr zusammen. Papa, die Unvermeidlichen, Tina, Simon und ich gehen mit den Kindern in die Kirche, wir haben keinen Baum, aber es gibt wieder die von Lilli geliebte Erbsensuppe. Alle tun, als ob es ein normaler Abend ist. Aber das ist es natürlich nicht. Papa und die Unvermeidlichen sind sichtlich gerührt, als Tina und ich ihnen je ein Blatt Papier mit den farbigen Händchenabdrücken überreichen, die wir an Lillis Beerdigungstag fabriziert haben. Und als es um kurz vor halb zehn Uhr klingelt und Oliver vor der Tür steht, wird natürlich auch wieder geweint. Ich jedenfalls kann meine Tränen nicht zurückhalten, als Oliver fragt, ob er stört. »Ich musste von zu Hause weg. Da ist mir die Decke auf den Kopf gefallen.« Er schluckt und guckt schnell weg. Dann hält er mir ein Päckchen hin. »Das hatte ich schon im Sommer für Lilli besorgt.« Es handelt sich um das »Christmas Album« von Elvis Presley.
Silvester verbringen Tina, Simon und ich allein mit den Mädchen. Es ist das traurigste Silvester meines Lebens. Simon verschwindet kurz nach Mitternacht, weil er mit seinen Kumpels auf der Reeperbahn noch anstoßen will. Ich muss ihn geradezu fortschicken. »Kann ich dich wirklich allein lassen?«, fragt er immer wieder. Dabei sieht er sehnsüchtig zur Uhr. Ich will ihn nicht festhalten. Er ist noch so jung. Es ist alles schwer genug für uns, denke ich. Wenn er mit seinen Freunden ein bisschen den Kummer vergisst, umso besser. Ich küsse ihn zärtlich. »Du lässt mich doch nicht allein. Wir machen es uns hier noch gemütlich.« Dass es keine gute Idee wäre, wenn ich mit ihm auf die Reeperbahn ginge, fühlen wir beide, ohne es auszusprechen. So bleiben Tina und ich zurück. Wir gucken uns einen alten Schwarzweißfilm an, dann sitzen wir im Wohnzimmer vor dem Kamin, hören dem immer stiller werdenden Silvesterfeuerwerk zu und sehen in die Flammen.
Die Geburtstage der Kinder im Januar feiern wir natürlich, obwohl uns Großen immer noch nicht richtig nach Feiern zumute ist. Tina backt einen Schokoladenkuchen, und wir schenken den Kindern ein Bobbycar. Es ist schön, wie viele Menschen an uns denken. Andreas ist aus Dänemark angereist und versucht Amélie und Bim beizubringen, »Papa« zu sagen. Außer meinem Vater und den Unvermeidlichen, Tina und Simon, den Pepovic-Kindern und Pastor Brenner ist auch Herr Scherz vom Jugendamt vorbeigekommen. Die Eltern von David haben mittlerweile ihr Einverständnis bekundet, Lisa-Marie zur Adoption freizugeben. Von Lillis Mutter haben wir nie wieder etwas gehört.
Vielleicht helfen meine Gebete ja doch, denn eines Tages verspüre ich am Vormittag unvermittelt einen unbändigen Appetit auf Milchkaffee. Seit Lillis Tod habe ich keinen mehr getrunken. Ein Grund dafür ist, dass mir der Sinn derzeit eher nach Tee steht – Tee tröstet besser als Kaffee. Tee ist ein Heilmittel. Hinzu kommt, dass der tägliche Milchkaffee ein Ri-tual zwischen Lilli und mir war. Der Geschmack von Kaffee und aufgeschäumter Milch – das ist die Erinnerung an Lilli. Ich vermeide unsere Rituale wie ein Hund, der seine verletzte Pfote schont.
Doch heute vergesse ich zum ersten Mal unser Ritual, sehne mich einfach nach Kaffeeduft und dem Geruch von Zimt und Kakao, die ich auf die Milchhaube streuen möchte.
Kakao und Zimt waren für Lilli unerlässlich, denn am liebsten
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