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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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hätte sie immer Kakao getrunken. Doch der tägliche Milchkaffee bedeutete uns mehr als ein Heißgetränk: Er war eine Gelegenheit, innezuhalten. In solchen Pausen seufzten wir: »Wie gut wir es haben!« Wir machten es uns immer besonders gemütlich. Lilli suchte die schönsten Becher aus, oft stand ein Blumenstrauß auf dem Tisch, manchmal auch ein Teller mit Keksen.
    Darauf verzichte ich heute – mir reicht der Kaffee. Aber wo ist der Milchaufschäumer? Ich schaue in der Besteckschublade nach, durchforste den Küchenschrank, werde dabei wütend und traurig. Weil ich den Aufschäumer nicht finde. Und weil mir klar wird, dass ich heute zum ersten Mal Lilli vergessen habe. Wie sich der Hund mit der verletzten Pfote nicht mehr an die Qual erinnert, sobald er wieder auftreten kann.
    Bedeutet das schwächere Leuchten des Todes, dass ich Lilli vergesse? Obwohl ich mir sehnlichst gewünscht habe, der Schmerz möge aufhören, erfüllt es mich mit großem Schuldgefühl, dass er heute weniger brennt. Mir wird heiß, der Schweiß perlt von meiner Stirn.
    Wie konnte ich Lilli vergessen? Panisch blicke ich auf das Badewannenfoto mit Lilli und Lisa-Marie, das am Kühlschrank hängt. In Sekundenschnelle spüre ich Erleichterung. Nein, ich habe Lilli nicht vergessen. Ich erinnere mich an ihren Geruch. Ich erinnere mich an die tätowierte Rose am Knöchel, an die lustige Nase zwischen den großen Augen – ich kann mir jede Einzelheit lebendig vor Augen führen. Aber, wie kann ich Kaffeedurst spüren, obwohl Lilli tot ist? In meiner Kehle wird es eng. Doch an diesem Morgen kommen zum ersten Mal keine Tränen mehr.
    Als ich den Milchaufschäumer endlich auf der Küchenfensterbank aus einem Topf ziehe, wo er sich zwischen Kochlöffeln und großen Messern versteckt hat, muss ich lächeln. Der wiedergefundene Milchaufschäumer ist ein Zeichen von Lilli – als ob sie ihn mir mit ihrem nachsichtigen Grinsen selbst in die Hände gelegt hätte. Fast meine ich, ihre Stimme zu hören: »Hier, Franzi. Mach doch die Augen auf!«
    Ich drehe mich um, als würde Lilli gleich in der Küche auftauchen. Aber der Türrahmen bleibt leer. Trotzdem unterhalte ich mich weiter mit ihr. Ich spreche nicht laut, und es ist auch keine Antwort zu hören. Doch in meinem Inneren frage ich sie, ob sie auch möchte, dass Lisa-Marie bei mir bleibt. Dass ich sie adoptiere. Ich, die bald 46-jährige Franziska. Die Lilli an ein Meerschweinchen gleichen Namens erinnerte und die manchmal auf sie so spießig gewirkt hat. Denn das ist eine Befürchtung, die ich noch niemandem verraten habe. Papa nicht, Andreas nicht und nicht einmal Tina: Werde ich die richtige Mutter für Lisa-Marie sein? Eine gute Mutter? Werde ich sie in Lillis Sinn erziehen? Würde Lilli mit mir zufrieden sein? Und werde ich für beide Mädchen die richtige Mutter sein? Werde ich keines vernachlässigen? Werde ich beiden gerecht werden? Ich liebe sie beide, aber reicht das? Ich schäume nachdenklich die Milch auf und streue bedächtig etwas Kakaopulver auf den weißen Schaum. Der Duft von Kaffee und Schokolade steigt in meine Nase, und dann höre ich auf einmal Lillis Stimme: »Du machst det schon, Franzi. Mach dir ma keenen Kopp!« Vielleicht habe ich mir das alles eingebildet, aber als der Becher mit dem Milchkaffee vor mir steht, fühle ich mich getröstet und hoffnungsvoll.

    Als ich Simon am Abend von »meinem Kaffee mit Lilli« berichte, versteht er sofort, was ich meine. »Ich sitze auch manchmal in der Kneipe und denke, dass sie zur Tür hereinkommt.« Er starrt vor sich hin. Es wirkt, als ob er in sich hineinsieht, und wie bei einem Reptil scheint sich über seine Augen eine zweite Schicht Hornhaut zu legen. Sein Blick wird leer. Dann gibt er sich innerlich einen Ruck und fragt: »Willst du auch ein Bier?« Er hat sich angewöhnt, bei jedem seiner Besuche ein Sixpack Bier mitzubringen. Er sitzt am Küchentisch und leert mit großen Schlucken eine Flasche. Dann unterdrückt er ein Aufstoßen, und während er eine zweite Flasche öffnet, sagt er: »Es wird natürlich ein bisschen enger mit zwei Kindern.«
    »Wie meinst du das? Ohne Lilli sind wir doch eine Person weniger. Wir haben zurzeit sogar ein Zimmer zu viel.«
    Er nimmt wieder einen Schluck.
    »Ist ja auch egal. Ich wollte dir nicht deinen Schwung nehmen.« Er verstummt, und ich frage mich, warum. Wieder scheint er seinen Blick nach innen zu richten.
    Wir haben nie über seinen Ausbruch an Lillis Todestag gesprochen. Davon, dass er

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