Kleine Schiffe
Heldin. Ich weiß, dass es andere Mütter gibt, die so etwas schaffen. Aber ich? Ich verspüre den heftigen Drang, mich in irgendeiner Ecke zu verstecken und ein paar Klappkarten zu basteln. Aber es gibt ja gar kein Bastelzimmer mehr.
Wir bringen die Mädchen nach einem ausgiebigen Bad ins Bett. Eigentlich hatten wir eine schwierige Nacht erwartet, weil Kinder ein untrügliches Gespür für Stimmungen haben und sich die Trauer, die Angst und Angespanntheit auf sie überträgt. Aber sie scheinen nach dem Tag so erschöpft zu sein wie wir. Auf jeden Fall schlafen beide schon fast, bevor ihre Köpfchen die Matratzen berühren. Tina und ich machen es ihnen ein Rotweinglas später nach. Wir verziehen uns in mein breites Bett, Tina rollt sich auf die linke Seite. Wir können nicht mehr reden. Wir können nicht mehr weinen.
Es ist mitten in der Nacht, als ich von unten ein Geräusch höre.
Neben mir schnarcht Tina mit leicht geöffnetem Mund. Wieder knackt es unten. Jemand ist im Wohnzimmer. Ich lausche. Jetzt höre ich es deutlich: Eine Bierflasche wird geöffnet. Weil das für einen Einbrecher ein recht ungewöhnliches Verhalten ist, entscheide ich mich, meine Angst zu überwinden und nicht die Polizei anzurufen. Stattdessen schlüpfe ich in dicke Socken und meinen Bademantel und schleiche die Treppe hinunter.
Im Wohnzimmer fläzt sich Simon schläfrig auf dem Sofa und trinkt bedächtig ein Bier.
Als ich ins Zimmer trete, setzt er sich auf. »Franzi! Liebling!« Er ist angetrunken und deprimiert und streckt die Arme nach mir aus. Er riecht nach Rauch und Bier, nach Novemberluft und ein wenig nach Schnee.
Ich küsse ihn und lehne mich an ihn. »Wie war’s?«
»Traurig, aber auch schön. Lilli hätte es wohl gefallen. Viel Bier, ein großes Feuer, viel Elvis-Musik.« Er legt seinen Kopf auf meine Schulter. »Du hast mir gefehlt.«
Ich erzähle ihm vom Anruf des Jugendamts.
»David ist gestern beerdigt worden«, sagt Simon.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Warum denn? Du wärst sicher nicht hingegangen.«
Das stimmt. »Aber ich würde gern wissen, wo das Grab ist, damit ich es für Lisa-Marie aufschreiben kann.«
Simon greift in die Tasche seines Parkas, den er immer noch trägt. »Hier.«
Während ich den Ausriss aus dem Hamburger Abendblatt studiere, zieht er den Parka aus.
Es ist eine schlichte Todesanzeige mit dem kurzen Text: »Wir trauern um unseren Sohn David.« Dazu Davids Lebensdaten sowie Datum und Ort der Beerdigung – ein kleiner Friedhof am anderen Ende der Stadt. Kein Wort von Lisa-Marie.
»Warst du da?«
Simon nickt. »War eine kurze Angelegenheit.« Seine Augen liegen tief in den Höhlen.
Er will nicht darüber reden, das ist deutlich. Ich streiche den Ausschnitt auf dem Tisch glatt.
»Ich habe seit Tagen keine Zeitung gelesen. Seit den Berichten über den Unfall habe ich dazu überhaupt keine Lust mehr. Komisch, dass mir Papa das nicht gezeigt hat. Er hat das Abendblatt doch abonniert.«
Simon reibt seine Nase. »Dein Vater ist eben klüger, als du denkst.« Er streckt sich, leert die Bierflasche mit einem Zug und steht auf. »Kann ich heute bei dir bleiben?«
»Tina schläft oben.«
Wir sehen uns einen Moment ratlos an.
»Was ist mit Lillis Zimmer?« Ich zucke zusammen. Simon zieht mich vom Sofa hoch. Er legt die Arme um meine Taille und küsst mich auf den Nacken. »Lilli würde sich bestimmt freuen. Und sie würde es verstehen.«
Zögernd lasse ich mich von ihm die Treppe hinaufführen.
Noch hängen Lillis Poster an den Wänden: eine Weltkarte, ein Stadtplan von Berlin, das Poster einer alten Konzert-Ankündigung einer Gruppe namens »Die Befreiung«, ein Platten-Cover von Elvis. Tina hat Lillis Bett bereits abgezogen. Es riecht nicht einmal mehr nach ihr. Lilli umgab der klassisch süße Mädchenduft zwischen Patschouli und Bébé-Creme. Doch jetzt duftet ihr Zimmer nach Tinas Reinigungsmitteln und frisch geputzten Fenstern.
In Windeseile beziehen Simon und ich leise flüsternd das Bett. Seine Anwesenheit macht es leichter, das Gefühl zu überwinden, ich sei ein Eindringling in diesem Zimmer. Und ich bin dankbar für Tinas tatkräftiges Handeln. Sicher, hier erinnert vieles an Lilli, aber es ist nicht mehr Lillis Zimmer. Ich denke an die Worte von Lillis Mutter: »Kein schönes Leben, kein schöner Tod.« Ich höre Lilli sagen: »Adoptivkinder sind die wahren Wunschkinder.«
Ich schmiege mich an Simon, der die Tür hinter uns schließt. Er küsst mich zärtlich,
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