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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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Tisch im Wohnzimmer! Nachdenklich betrachte ich es.
    Und dann klingelt es zum zweiten Mal. Ich greife danach. Auf dem Display erscheint der Name des Anrufers: »Nadine«. Ich kenne keine Nadine. Auch in Lillis Freundeskreis gab es keine Nadine. Mein Herz tut mir weh. Ich warte, bis die Mailbox antwortet. Dann lege ich Simons Handy vorsichtig auf den Tisch zurück. Ich räume das Wohnzimmer auf, stelle die leeren Flaschen in den Eingang, gehe in mein Schlafzimmer und rolle mich im Dunkeln im Bett zusammen. Und jetzt kommen doch wieder die Tränen.
    Simon kehrt spät nach Mitternacht zurück. Bei dem Versuch, die Treppe hinaufzusteigen, macht er so viel Lärm, dass ich schnell zu ihm runterlaufe, damit er die Kinder nicht weckt.
    Ich bugsiere ihn ins Wohnzimmer. Er ist betrunken, plumpst schwerfällig auf das Sofa und schnarcht sofort. Ich ziehe ihm die Stiefel von den Füßen, breite eine Decke über ihn und gehe wieder ins Bett.
    Obwohl ich erst glaube, nicht schlafen zu können, muss ich doch eingeschlummert sein. Es ist immer noch Nacht, als mich Simon weckt. »Franziska, ich muss mit dir sprechen«, flüstert er und legt seine Hand auf meine Schulter.
    »Wie spät ist es?«
    »Gleich fünf.«
    Etwas in seiner Stimme alarmiert mich. »Bin sofort unten.«
    Als ich wenig später in die Küche trete, steht die Kaffeekanne schon auf dem Tisch. Simon ist übernächtigt, sein Dreitagebart lässt ihn noch blasser erscheinen, seine Augen liegen tief in den Höhlen, er wirkt aber hellwach. Er gießt mir wortlos einen Becher voll und schiebt mir das Kännchen mit der Milch zu. Er selbst leert seinen Becher mit großen Schlucken.
    Ich hoffe, dass meine Stimme nicht zickig klingt, als ich frage: »Bist du okay? Also wieder nüchtern?«
    Der Tonfall scheint der richtige zu sein. Simon nickt. »Keine Sorge. Ich musste mich vorhin übergeben. Aber das Gästeklo ist schon wieder sauber.« Er zuckt mit den Achseln. »Der Apfelschnaps war wohl zu viel … nach dem Bier und dem Grappa.«
    »Wo warst du denn?«
    »Überall und nirgends. Auf dem Kiez, dann in der Schanze. Im ›Maybach‹ habe ich noch ein paar Schnäpse nachgeladen, aber dann wollten mich dort noch nicht einmal mehr die Piranhas sehen.«
    Das »Maybach« ist ein Café an der Ecke Wiesenstraße/Heußweg – dort gibt es ein Aquarium mit echten Piranhas.
    »Wo steht dein Auto?«
    Simon wirft mir einen scharfen Blick zu. »Zu Hause natürlich. Ich fahre doch nicht, wenn ich besoffen bin.« Er scheint noch etwas sagen zu wollen, verschluckt es dann aber.
    Einen Moment lang schweigen wir. Wir denken wohl beide an David und Lilli. David hatte laut Polizeibericht über zwei Promille Alkohol im Blut, als er, zusätzlich noch bekifft, mit dem Auto in den U-Bahn-Eingang krachte. Mit Mühe verdränge ich die Bilder, die wieder in mir aufsteigen. Vom kaputten Wagen, von Lilli auf dem Krankenhausbett, dem Sarg …
    Ich konzentriere mich auf die nächstliegende Frage. »Warum hast du mich geweckt?«
    Simon setzt sich mir gegenüber und nimmt meine Hände. Er sagt: »Ich bin schuld an Lillis Tod.«
    Bevor ich darüber nachdenken kann, entziehe ich ihm meine Hände und schlinge die Arme um meinen Körper. Ich starre ihn fassungslos an, ringe nach Worten. Endlich finde ich meine Stimme wieder und presse heraus: »Was?«
    Simon sitzt regungslos da. Seine Hände liegen jetzt offen auf der Tischfläche, sie sehen leer und nutzlos aus, wie im Sandkasten vergessene Kinderschippen.
    Schnell schiebe ich meine Finger wieder zwischen seine. »Was sagst du da?«
    Simon hält meine Hände fest. Er ist noch blasser geworden, auf seiner Stirn steht Schweiß. »Heute Abend habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich meine, ich habe alles ertragen. Ich habe dir geholfen, ich habe die Beerdigung organisiert, ich habe mich zusammengerissen. Weihnachten, Silvester, die Geburtstage … Aber jetzt kann ich nicht mehr.« Sein Gesicht verzieht sich, er schiebt meine Hände fort und beginnt zu weinen. Er klingt wie ein Ertrinkender, als er herauspresst: »Franzi, bitte, hilf mir! Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!«
    Ich ziehe meinen Stuhl neben seinen und lege den Arm um seine Taille. Das Weinen kommt genauso machtvoll über ihn wie damals über mich, im Raum der Stille. Es erdrückt ihn – er bricht über dem Tisch zusammen, legt die Stirn auf das Holz. Seine Schultern zucken, sein Körper wird von Schluchzern gebeutelt.
    Es dauert lange. Simon weint und weint. Zwischendurch stößt er in

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