Kleine Schiffe
Erziehungsurlaub, aber wenn die Kinder groß genug für den Kindergarten sind, würde ich wieder als Arzthelferin arbeiten. Lilli und ich haben … wir hatten schon angefangen, uns nach einem Kindergarten umzusehen.«
Brenner wirft ein: »Sie könnten ja eine unserer Kindereinrichtungen besuchen.« Er erzählt, dass die Gemeinde ein Kindertagesheim und zwei Kindergärten im Stadtteil unterhält.
Ich nicke. »Wirtschaftlich würde ich, was Amélie angeht, von meinem Ex-Mann unterstützt. Noch teilen sich die Kinder ein Zimmer zum Schlafen im Obergeschoss. Aber wenn sie größer werden, könnte jedes Mädchen ein eigenes Zimmer bekommen.«
Brenner fragt: »Sie trauen sich das also allein zu mit zwei Kindern?« In meiner Manteltasche umklammere ich Lillis Lippenstift.
»Es wird anstrengend, aber es ist immer anstrengend mit Kindern.« Ich denke an die Nächte, wenn die Kinder krank sind. An die Nachmittage, an denen sie nur quengeln und wütend sind. Und dann denke ich an ihr Lachen und daran, wie sie vor Glück kreischen, wenn sie zusammen in der Badewanne sitzen. Laut sage ich: »Anstrengend und schön. Andere Frauen haben auch Zwillinge. Unsere wären dann eben …« Ich suche nach einem Wort. »Sie wären Herzenszwillinge. Und ich bin zwar geschieden, aber ich bin nicht allein. Da gibt es meinen Vater …«
Brenner fällt mir ins Wort. »Und der steht bestimmt hinter der Idee.«
»Meinen Sie?«
»Ich glaube, er wartet nur darauf, dass Sie ihm von Ihrem Wunsch erzählen.«
»Meine Freundin Tina würde mir auch helfen. Aber was mache ich, wenn das Jugendamt nun doch findet, dass ich zu alt bin? Ich habe einmal gelesen, dass Adoptiveltern ein bestimmtes Alter nicht überschreiten dürfen.«
Er drückt meine Hand. »Franziska, machen Sie sich keine Sorgen. Die Frage ist doch: Was ist das Beste für Lisa-Marie?«
Wir gehen langsam wieder zurück und drehen noch eine Runde um den Weiher. Als wir vor meiner Hofeinfahrt ankommen, nimmt er meine Hand. »Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die nächste Zeit. Rufen Sie mich an, wenn Sie mögen. Ach – und auf die Gefahr, dass Sie mich jetzt furchtbar spießig und fromm finden: Beten hilft manchmal!«
Genau das tue ich in den nächsten langen, schlaflosen Nächten. Aber Gott, der in Lillis Todesnacht nicht bei ihr war, schweigt auch jetzt. Trotzdem wende ich mich in meiner Verzweiflung immer wieder an ihn. Was bleibt mir anderes übrig?
Der Herbst neigt sich dem Winter zu, und Hamburg ist längst in dem Tunnel, in dem es jedes Jahr zwischen Oktober und März verschwindet. Die wenigen Tage, an denen der Himmel über der Stadt in Aquamarinblau erstrahlt, leuchten aus dem einförmigen Grau der Jahreszeit wie Wunderkerzen in der Dunkelheit.
Wir sprechen immer vom Unfall, vermeiden das Wort Tod. Mit dem Tod kann nichts beginnen. Mit dem Tod endet alles.
Die Adventszeit fällt in diesem Jahr aus. Mir steht der Sinn nicht nach Plätzchen backen und Weihnachtsliedern. Wir sind froh, dass die Kinder noch so klein sind, dass sie die Schwärze dieser Zeit nicht begreifen. Lilli hat übrigens recht behalten: Amélie nennt Lisa-Marie so konsequent »Bim«, das wir uns das auch immer mehr angewöhnen. Und beim Singen von »Bruder Jacob, hörst du nicht die Glocken, bim, bam, bum« hören beide immer genau hin.
Am 7. Dezember kommt Herr Scherz zu uns. Die Kinder sind beide wach, und er kann sich ein gutes Bild von einem Stück Alltag mit ihnen machen. Er stellt mir viele Fragen. Wann ich wieder anfangen würde zu arbeiten. Wie mein Arbeitgeber zu Kindern steht. Wie meine finanzielle Situation ist. Wie ich Lilli kennengelernt habe. Er sieht sich das Album an, das Tina für Lisa-Marie gemacht hat.
Nach zwei Stunden kommt Papa mit selbstgebackenen Zimtsternen dazu. Auch ihm stellt Scherz viele Fragen. Wie weit entfernt Papa wohnt, was er von der Idee hält, Lisa-Marie zu behalten – und ob er wohl sein Rezept für Zimtsterne verraten würde?
Ich fasse mir ein Herz. »Herr Scherz, glauben Sie denn nun, dass ich Lisa-Marie behalten darf?«
Scherz greift noch einmal nach den Zimtsternen. »Solch eine Entscheidung ist ein langwieriger Prozess, das geht nicht so schnell, wie es sich alle Leute immer vorstellen oder es sich wünschen. Ich denke, wir werden jetzt erst einmal einen gesetzlichen Vormund bestimmen, und Sie werden einen Antrag auf Adoption stellen. Wir bleiben weiter in Kontakt und bringen alles auf den Weg.«
Ich bin geknickt, denn das ist nicht die Antwort, die ich
Weitere Kostenlose Bücher