Kleine Schiffe
weggelaufen ist, weil er eifersüchtig auf Andreas war. Dass er sich als Ersatzvater zu jung fand. Dass er Babys mag, aber nicht dauernd. Jetzt muss er mich sogar mit zwei Kindern teilen. Ob er wohl noch an diesen Streit denkt? Ich forsche in seinem Gesicht. Aber er lächelt mich schon wieder an. »Komm her, Franzi, küss mich. Und dann bringen wir die beiden Racker ins Bett, okay?«
Doch so harmonisch bleibt es nicht zwischen uns. Simon trinkt zu viel, und ich bin überlastet, weil die Kinder zum Ausgang des Winters ständig erkältet sind und mir die ohnehin kurze Nachtruhe rauben.
Lilli fehlt mir an allen Ecken und Enden. Nicht nur ihr Lachen und ihr Witz, sondern ihre Unterstützung, ihre praktische Art, das Leben zu meistern. Zwei Hände schaffen weniger als vier. Aber Lilli fehlt auch noch in anderer Hinsicht: Ich begreife erst jetzt, dass sie häufig wie ein Puffer zwischen mir und Simon wirkte. Wie oft hat sie eine Kabbelei zwischen uns ins Lächerliche gezogen, mit einer kecken Bemerkung die Stimmung entspannt, das Augenmerk auf wichtigere Dinge gelenkt. Jetzt, wo Lilli nicht mehr da ist, scheinen Simon und ich häufiger aneinanderzugeraten.
Eines Abends kommt es zwischen Simon und mir wieder einmal zum Streit – der Anlass ist sein Bierkonsum. »Findest du nicht, dass du zu viel trinkst?«, frage ich, zugegeben etwas spitz, als er sich an diesem Abend die vierte Flasche Bier aus dem Kühlschrank holt.
»Wer bist du? Meine Mutter?«, patzt Simon zurück.
Ich verzichte auf eine Antwort und strecke mich auf dem Sofa aus. Im Fernsehen läuft ein Krimi, dessen Anfang wir verpasst haben. Vergeblich versuche ich mich auf die verworrene Handlung zu konzentrieren.
Simon sitzt neben mir und spielt mit seinem Handy. Zunächst versuche ich das Gepiepe zu ignorieren, aber dann frage ich doch: »Was machst du da eigentlich?«
»Ich such einen anderen Klingelton.«
Das Gepiepe geht weiter. Im Fernsehen stehen zwei Ermittler vor einer Currywurstbude und tauschen ihre neuesten Fahndungsergebnisse aus.
»Hast du mitbekommen, wer wen ermordet hat?«, frage ich.
Simon wirft das Handy entnervt auf den Tisch. »Nein, habe ich nicht! Wen interessiert der Scheiß überhaupt?«
»Na, du hast das doch eingeschaltet, oder?«
»Aber nicht, weil es mich interessiert hätte.«
»Und warum sonst?«
Simon springt auf. »Weiß ich nicht! Ich wollte einfach …« Er verstummt.
»Was wolltest du?«
Simon läuft unruhig im Zimmer hin und her. Endlich bleibt er am Fenster stehen. Er sieht in die Dunkelheit und sagt kaum hörbar: »Ich wollte, dass die Stille aufhört.«
Polizeisirenen aus dem Fernseher.
Ich stelle den Ton ab. »Die Stille?«
Simon nickt missmutig.
»Wir können doch reden.«
Simon verzieht verächtlich den Mund und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen. »Reden? Worüber denn?« Wütend zappelt er herum. »Man kann nicht über alles reden.« Mir fällt auf, wie blass er ist. Seit Tagen hat er sich nicht rasiert. Die Worte meines Vaters kommen mir wieder in den Sinn: »Für Simon ist der Tod unvorstellbarer als für uns.«
Sanft frage ich: »Simon, was ist eigentlich los? Mir kannst du doch alles sagen.« Als er weiter schweigt und meinem Blick ausweicht, bitte ich: »Simon, sprich mit mir!«
Es ist, als ob meine Worte ein brennendes Streichholz sind, das in einen Benzinkanister geworfen wird. Simon explodiert förmlich. Er fährt herum und brüllt: »Nein, nein, nein! Ich will nicht reden! Am allerwenigsten mit dir!« Er rennt an mir vorbei, wobei er die leeren Flaschen umstößt, reißt seine Jacke von der Garderobe und knallt die Haustür hinter sich zu. Seine schnellen Schritte verklingen auf dem Hof. Dann ist alles still.
Mein erster Gedanke gilt den Kindern. Hat Simons Ausbruch sie geweckt? Ich horche in den Flur hinaus. Aber es bleibt alles ruhig.
Das Fernsehbild flackert. Ich schalte das Gerät aus und versuche, meine wirren Gedanken zu ordnen. Was ist nur los mit Simon? Und wieso kann er »am allerwenigsten« mit mir über seine Probleme reden?
Wohin verschwindet er jetzt? Das Ganze sah wie eine Flucht aus. Hoffentlich stößt ihm nichts zu. Seit Lillis Unfall bin ich noch besorgter als sonst. »Männer machen Lärm, Frauen machen sich Sorgen«, hat Lilli mal gesagt. Ich will nicht, dass Simon so aus meinem Leben hinausläuft.
In seiner WG meldet sich nur der Anrufbeantworter, und als ich versuche, ihn mobil anzurufen, höre ich sein Handy klingeln. Es liegt nämlich noch auf dem
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