Kleine Schiffe
Bruchstücken hervor, was in jener Nacht geschehen ist.
»Ich war so eifersüchtig, weil Andreas hier aufgetaucht ist!« Er erzählt mir, dass er sich neben diesem gutgekleideten Erfolgsmenschen klein und unwichtig vorkam. »Der ist Arzt – und ich? Ich beschloss, den Abend nicht mit dir zu verbringen. Du solltest einfach mal sehen, wie das ist, wenn ich nicht da bin.«
»Du wolltest, dass ich mir Sorgen mache?«
»Ich wollte, dass du dich zu mir gehörig fühlst – und nicht zu diesem Doktor Wichtig!« Bei der Erinnerung daran schüttelt er den Kopf. »Wie der dich behandelt hat!«
»Aber du hast dich doch in letzter Zeit gut mit ihm verstanden.«
»Ja, aber erst nach Lillis Tod. Und ich weiß jetzt: Der ist gar nicht so übel. Sogar dein Vater kommt jetzt mit ihm klar. Aber das wusste ich damals noch nicht. Ich hatte die Hasskappe auf! So ein Arschloch. Wie der hier reinspaziert kam! Und wie entsetzt er über das Leben in der Küche war. Also ob wir ein Haufen Asozialer wären! Und du bist dem noch hinterhergelaufen. Ich fühlte mich echt beschissen. Meine Frau rennt so einem Typen nach!«
Er erzählt, wie er an dem Abend mit den Jungs aus der WG bei etlichen Bieren ein wenig »vorgeglüht« habe, wie er das nennt. »Aber die sind dann zu einer LAN-Party nach Kiel gefahren. Also bin ich allein weiter. Auf der Reeperbahn habe ich Lilli getroffen. Mit ihren Mädels im Schlepptau – und mit Oliver. Mit dem hat sie ein bisschen rumgeflirtet.« Simon unterbricht sich. Dann fährt er fort: »Wir haben zusammen getrunken und gefeiert.«
»Gefeiert« – ich habe in meiner Wohngemeinschaft mit Lilli und Simon mittlerweile gelernt, dass damit der Zustand beschrieben wird, den Papa und die Unvermeidlichen als »sturzbesoffen« definieren.
»Wir saßen da also rum und haben gefeiert und waren gut in Stimmung. Ohne David kann Oliver sehr witzig sein, und wir haben viel gelacht. Besonders Lilli …«
Einen Moment lang steht Lillis Pfirsich-Lächeln vor uns – ihre rauhe Stimme klingt in unseren Ohren, diese Stimme, die beim Lachen mitunter so unerwartet kiekste, dass es alle anderen mitriss.
»Aber dann tauchte aus heiterem Himmel David auf. Er war ziemlich zu und hat sich als Lillis Macker aufgespielt. Lilli hat zwar mehrfach gesagt, dass sie mit ihm fertig ist, aber David hat immer wieder Lisa-Marie ins Spiel gebracht und Lilli jedem, der es hören wollte oder nicht, als ›die Mutter meines Kindes‹ vorgestellt. Lilli war das sehr peinlich. Dann hat sich David mit mir angelegt. Er hat nach dir gefragt und ob ich Freigang aus dem Seniorenheim hätte. Wir haben uns fast geprügelt und sind deswegen aus dem Klub geflogen. Draußen ging es aber weiter, denn David hat mit dem Mercedes seines Alten angegeben. ›Tja, das sind Klassewagen, für so was haben Leute wie du kein Gefühl‹, hat er rumgegrölt.«
Ich nicke, denn ich weiß, wie arrogant David sein konnte.
Wenn Simon überhaupt Auto fährt, nimmt er manchmal das sogenannte WG-Mobil, einen betagten Opel Astra, den einer seiner Mitbewohner von seinem Vater geerbt hat.
»Wieso bist du schuld an Lillis Tod?«, frage ich.
Simons Augen erinnern mich an die eines Tieres in Todesnot. Schließlich flüstert er: »Weil ich mit David dieses Scheißautorennen gefahren bin.«
Eine stählerne Hand krallt sich um meinen Magen. Mühsam bringe ich heraus: »Autorennen? Was für ein Autorennen?«
»Wir waren beide besoffen. Ich habe dann gesagt, dass er vielleicht die schickere Karre hat, dass es aber immer drauf ankommt, wie man ein Auto fährt. Hundertfünfzig Sachen macht der Astra auch.«
»Die kann man in der Stadt aber nicht fahren.«
»›Kommt drauf an, wo, wann und wer‹, hat David gesagt. Und dann haben wir verabredet, dass wir doch mal sehen wollen, wer besser ist. Was für Idioten wir waren!« Simons Gesicht wird klein, tiefe Falten zeigen sich um seinen Mund, die Augen glänzen unnatürlich über den dunklen Schatten auf seinen Wangen.
»Und Lilli …?«
Simon zuckt zusammen. »Lilli ist irgendwann dazwischengegangen.«
»Aber wieso ist sie in Davids Wagen gestiegen?«
Simon hebt gequält die Achseln. »Das hab ich nicht richtig mitbekommen. Ich habe mein Auto geholt, und als ich bei Davids Mercedes ankam, saß sie plötzlich auf dem Beifahrersitz.«
Er streicht sich über die Stirn. »Und das hat dich nicht von diesem Rennen abgehalten?« Meine Stimme klingt schrill.
Simon schüttelt den Kopf und spricht durch seine Finger. »Nein. Das heißt:
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