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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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Anfangs schon, aber dann hat David an der Ampel wieder den Dicken markiert. Er hat mir den Stinkefinger gezeigt und ist losgefahren – da bin ich einfach hinterher. An Lilli habe ich überhaupt nicht gedacht. Außerdem wollte ich doch niemanden totfahren!«
    Bei dem Wort »totfahren« schluchze ich auf. Ohne darüber nachzudenken, ziehe ich Simon an mich. Wir halten uns im Arm.
    Simon sieht mich nicht an, als er sagt: »Wir sind also die Reeperbahn runter, in die Budapester rein. Alles ging wahnsinnig schnell, ich kann mich kaum daran erinnern. Das ist alles völlig verschwommen. War ja schon lange nach Mitternacht. Die Straßen waren leer. Dann die Kieler längs über den Eimsbüttler Marktplatz. Da habe ich sie abgehängt, bin vor ihnen in den Heußweg. Wir wollten ja zur Osterstraße.« Er pausiert, sucht meinen Blick. Mein Gesicht muss mein Entsetzen derart widerspiegeln, dass er schnell wieder wegschaut. Stockend beendet er seine Erzählung: »Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich war eifersüchtig, unglücklich und besoffen. Ich hätte gar nicht mehr fahren dürfen. Aber ich wollte es dem Scheiß-Mercedes-Arsch einfach zeigen.«
    Und Andreas und mir! Laut sage ich: »Und der Unfall?«
    »Von dem habe ich überhaupt nichts mitbekommen. Ich habe sie ja schon an der Ampel Eimsbüttler Markt überholt, und damit war klar, dass ich gewonnen hatte. Ich bin mit großer Geste an ihnen vorbei.« Er strafft seinen Körper und markiert einen militärischen Gruß. »Dann bin ich einfach nach Hause gefahren. Sollten mich doch alle kreuzweise! Zu Hause habe ich mir noch ein paar Bier reingezogen. Und es gab noch eine halbe Flasche Wodka …«
    Er legt die Stirn auf den Tisch. Es ist still in der Küche.
    Simons Stimme klingt jung und sehr verloren, als er später sagt: »Er muss gewendet haben. Denn eigentlich war das ja die falsche Richtung.«
    Wir werden nie erfahren, was in Lillis und Davids letzten Lebensminuten vorgefallen ist. Aber Simons Bericht lässt den Schmerz, den ich schon ein wenig gemildert geglaubt hatte, mit unverminderter Heftigkeit wieder aufbrechen. Lillis Tod erscheint nun noch sinnloser. Das entsetzliche Ende eines Autorennens zwischen zwei frustrierten, betrunkenen, von Hormonen gesteuerten Jungmännern.
    Aber Simon ist so verzweifelt, dass ich nicht wütend auf ihn sein kann. Wie muss ihn das Geschehnis gequält haben! Ich streiche über seinen Rücken.
    Simon hebt den Kopf. »Seitdem erlebe ich dieses Scheißrennen immer wieder: Ich sehe Lilli neben David sitzen, als ich sie überhole. Ich sehe sie jeden Morgen, wenn ich aufwache. Ich sehe sie, wenn ich die Augen schließe. Und ich weiß, ohne mein Verhalten wäre sie noch am Leben. Und David auch.«
    Es gibt nichts, was ich zu seinem Trost sagen kann. Wir trinken den Kaffee, manchmal halten wir uns an den Händen. Es ist wie eine Totenwache.
    Es wird hell. Simon sagt: »Ich muss dir noch etwas sagen, Franzi.«
    Ich weiß nicht, wie viel ich noch aushalten kann. Simon lehnt sich an mich. Seine Stimme ist fest. »Ich gehe weg, Franzi. Ich habe die Chance, im Airbus-Werk in Toulouse zu arbeiten. Ich glaube, das mache ich.«
    Ein scharfer Schmerz durchzuckt mich, und ich rücke von ihm ab. Es tut weh. Ich will rufen: »Nein, bitte lass du mich nicht auch noch allein! Bleib bei mir, bleib bei uns!« Aber als ich seinen bittenden Blick sehe, nehme ich mich zusammen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann ihn verstehen. Er will das alles hinter sich lassen. Neu anfangen. Ich darf ihn nicht aufhalten. Obwohl sich mein Herz zusammenkrampft, versuche ich mich an einem Lächeln. »Das ist wirklich eine große Chance. Herzlichen Glückwunsch!«
    »Aber kann ich dich denn allein lassen?«
    Simon nimmt wieder meine Hand. Seine ist kalt. Ich rubble seine Finger zwischen meinen wie die Mutter eines Kindes, das die Handschuhe vergessen hat. Leichthin sage ich: »Ich bin doch nicht allein. Ich habe meinen Vater, Rudi und Helmut, Tina. Und die beiden Mäuse.« Tapfer schlucke ich die Tränen hinunter.
    Im Obergeschoss sind die Kinder wach geworden. Behutsam mache ich mich von Simon los. »Ich gehe lieber mal hoch, bevor sie anfangen zu weinen.« Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und wende mich zum Gehen. Als ich die Stufen hinaufsteige, habe ich das Gefühl, kiloschwere Eisengewichte an den Beinen zu haben. Simon sitzt am Tisch und starrt vor sich hin. Und ich weiß, dass er noch genauso da sitzen wird, wenn ich mit den Kindern nach unten komme. Er

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