Kleine Schiffe
denn, was ›ein Leben im Griff haben‹ ist? Sie würden staunen, wie häufig die Geburt des eigenen Kindes aus unorganisierten Menschen verantwortungsbewusste Eltern macht. Darüber berichten die Medien übrigens nie …« Er nimmt einen Schluck Kaffee. »Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist unendlich kompliziert, und sie ist exklusiv. Es gibt nur einen Vater und eine Mutter in unserem Leben. Nur zu einem Menschen werden wir Mama sagen.« Er lächelt mir zu. »Ich weiß, dass Lisa-Marie zu ihrer Mutter und Ihnen Mama sagte – zunächst. Aber schon in wenigen Wochen hätte sie differenziert und erkannt, dass Frau Urbschat ihre Mutter war und Sie Amélies. Jetzt werden Sie für beide Mädchen diese exklusive Position übernehmen.«
Er sieht sich in der Küche um und betrachtet lange ein Foto von Lilli, Lisa-Marie, Amélie, Papa, den Unvermeidlichen und mir, das bei einem unserer legendären Suppen-Essen entstanden ist und jetzt an der Kühlschranktür hängt. »Wirklich eine nette Familie«, sagt Scherz zufrieden und lächelt mir zu.
Vor uns auf dem Tisch steht eine Erinnerungskiste, die Tina und ich für Lisa-Marie zusammengestellt haben. Darin befinden sich Lillis Klimperarmreifen, ein kleiner Samtsack, in dem Lilli ihren weiteren Schmuck aufbewahrte, ein paar Christbaumkugeln, einige schöne Steine und Muscheln, Souvenirs eines Strandspaziergangs, ein Zementbrocken, der angeblich aus der Berliner Mauer stammt, ein pinkfarbenes Samtband. »Die Kiste werden wir Lisa-Marie geben, wenn sie alt genug ist. Und ich habe auch noch Lillis iPod und einen Datenstick, auf dem kleine Filmchen von uns allen sind, die Lilli und Simon, ein gemeinsamer Freund von uns, im letzten Jahr mit dem Handy aufgenommen haben«, erkläre ich. Herr Scherz wischt seine Hände mit einer Papierserviette sauber, damit keine Kekskrümel in die Kiste fallen. Sorgsam nimmt er nacheinander unsere Erinnerungsstücke aus der Kiste. Er wirft zuletzt einen Blick in das Samtsäckchen mit dem Schmuck und legt dann alles sorgfältig wieder zurück.
»Wie ist eigentlich die letzte Untersuchung beim Kinderarzt verlaufen?«, fragt er unvermittelt. Ich hole die gelben Untersuchungshefte der Kinder. »Alles prima!« Herr Scherz blättert schnell die Hefte durch. Dann steht er auf. »Ich möchte mir gern, bevor ich mich verabschiede, noch einmal das obere Geschoss ansehen.« Vorsichtig versucht er aufzustehen, was dadurch erschwert wird, dass sich Amélie an seinem Knie festklammert. Sanft nimmt Scherz ihre Hand.
»Guck mal, Bim ist allein aufgestanden«, bemerkt Papa.
Wir sehen zu Lisa-Marie hinüber. Sie lacht und ruft: »Mi!« Ein Laut, den sie derzeit auf Spielzeuge, Essen und vor allem auf Amélie anwendet. Sie wühlt in der Plastikkiste, in die wir alles hineinwerfen, was wir abends aus den Ecken der Küche klauben: ausrangiertes Strandspielzeug, Bauklötze, Plastikfiguren, einen alten Holzlöffel, einen schlaffen Luftballon, kleine Bälle. Denn obwohl die Kinder ein Spielzimmer haben, verteilen sie natürlich ihr Spielzeug über das ganze Untergeschoss. Bim hält sich nur noch wenig an der Kiste fest. Bald wird sie sicher laufen.
»Bim und Mi! Säuglinge sind sie wirklich nicht mehr«, sage ich.
Papa nickt. »Erst lernen sie laufen, dann laufen sie ins Leben – so ist das nun mal. Deine Mutter hat immer gesagt: ›Kinder sollte man in Liebe marinieren, dann sind sie mit sechzehn schön durch.‹« Er lacht leise. »Mir gefiel, wie sie versucht hat, meine Küchensprache auf völlig andere Dinge anzuwenden.« Er wird wieder ernst und nimmt Scherz Amélie ab, die sich immer noch an dessen Hand klammert. Vorsichtig hilft er ihr, sich auf ihren Windelpopo fallen zu lassen. »Schade, dass deine Mutter dich mit sechzehn nicht mehr erleben konnte.« Er nickt Scherz zu, der sich bei unserem kleinen Wortwechsel diskret zurückgehalten hat. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Belletage.« Natürlich wollen die Kinder mit, und so stehen wir wenige Minuten später alle in dem kleinen Flur, von dem die drei oberen Zimmer und das Badezimmer abgehen. Papa folgt den Kleinen auf dem Weg in ihr gemeinsames Schlafzimmer, während Scherz sich in Lillis Zimmer umsieht. Es stehen noch ihre alte Möbel darin, aber sie selbst ist kaum noch spürbar: Die für sie typische Unordnung fehlt. Keine Wäschestapel, keine wehenden Tücher an Schränke gehängt und über Stühle geworfen. Verschwunden die stets leicht eingestaubte Armada von Nagellackfläschchen in
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