Kleine Schiffe
wird Lisa-Marie, die Lilli so ähnlich sieht, auf den Schoß nehmen, und er wird wahrscheinlich nie aufhören, sich die Schuld am Tod ihrer Mutter zu geben. Jetzt ist also eingetreten, wovor ich so große Angst hatte: Simon und ich werden uns trennen. Das ist der Anfang vom Ende. Denn ich spüre instinktiv, dass das, was Simon und ich hatten, keine weiten Entfernungen aushält.
Oben hole ich die Mädchen aus ihren Betten. Amélie krabbelt sofort zum Bobbycar, während sich Lisa-Marie noch etwas verschlafen in meinen Arm kuschelt. Ihre Augen sind von demselben Blau, wie Lillis Augen waren. Dann geschieht etwas Merkwürdiges. Wie in einem Film sehe ich vor meinem inneren Auge, wie Lilli Simon auf die Schulter klopft. Und ich höre sie sagen: »Mach dir keenen Kopp, Junge! Und macht alle mal hinne mit eurem eigenen Leben. Mir nützt det allet nischt. Ick bin ja schon tot! Ihr schafft det schon! Wetten?«
Ich setze auf jede Hüfte ein Kind und teile den beiden mit: »Wir schaffen das. Und Simon schafft das auch.« Wir müssen nur noch eine Weile länger durch die Dunkelheit tappen, erst dann wird eine neue Zeit beginnen. Es heißt, dass jedem Neubeginn ein Zauber innewohnt. Ich werde auf den Neubeginn warten. Geduldig. Und gespannt.
18. Kapitel
Niemand erwartet etwas von uns
Niemand traut uns etwas zu
Aber das Fenster steht offen
Der Himmel ist leer
Die Straße ist leer
Die Nacht erwartet uns.
Bernd Begemann: »Wir werden uns umsehen«
J etzt muss es aber langsam besser werden!«, sagt Papa, als er einige Tage nach Simons Geständnis an meinem Küchentisch sitzt. Es ist ein kalter, sonniger Märztag. Die Kinder sind nach dem Mittagsschlaf munter und aufgekratzt und krabbeln zwischen Spielzimmer und Küche hin und her. Beide können an der Hand recht gut laufen, aber auf den Knien sind sie immer noch schneller. Obwohl Papa die Sache mit dem Autorennen sehr aufregt und er über Simon und seine Verantwortungslosigkeit lauthals geschimpft hat, ist ihm seine Genugtuung anzusehen. Schließlich hat er mich schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass hinter Simons Verschlossenheit und Kummer und seinem verstärkten Alkoholkonsum mehr steckt als normale Trauer.
Wir warten auf Herrn Scherz, der sich wieder einmal zu einem Besuch angesagt hat. Herr Scherz hat Papa verraten, dass er nach der Schule erst Konditor gelernt, aber später umgesattelt hat. Jetzt gehören Kekse der unterschiedlichsten Sorten zum Kaffeetrinken mit Scherz. In der Zwischenzeit hat Lisa-Marie einen gesetzlichen Vormund, was sich viel bedeutender anhört, als es eigentlich ist. Denn wir bemerken von dem Vormund, einer Frau Schulze, gar nichts. Sie ist ein Name und eine Telefonnummer in meinem Telefonbuch. Müsste bei Lisa-Marie zum Beispiel eine lebensnotwendige Operation vorgenommen werden, würde bei ihr angefragt werden, und sie müsste etwas entscheiden – nachdem sie sich mit mir beraten hat. Ich bin derzeit eine Art Pflegemutter für Bim, und wenn alles gutgeht, werde ich irgendwann ihre Adoptivmutter sein. Aber die Mühlen mahlen langsam, bevor das, was in der Wiesenstraße längst Realität ist, bürokratisch mit Brief und Siegel abgesegnet ist.
Scherz greift begeistert nach einer Nussecke. »Köstlich, Herr Schneider!«
Er erzählt, dass er sich immer amüsiert, wenn über Prominente in der Zeitung steht, sie hätten ihr fünfmonatiges Kind vor drei Monaten adoptiert. »Das ist praktisch kaum möglich. In Deutschland hat eine abgebende Mutter nach der Geburt ja zunächst einmal drei Monate Zeit, es sich noch einmal anders zu überlegen.«
Das verstehe ich nicht. Scherz erklärt: »Eine Mutter entschließt sich beispielsweise schon vor der Geburt, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Dann bringt sie es zur Welt, und es wird vom Jugendamt den potenziellen Adoptiveltern übergeben. Die leibliche Mutter hat nun drei Monate Zeit, ihre Lebenssituation noch einmal zu bedenken. Dann erst kann sie zu einem Notar gehen und der Adoption zustimmen.«
Papa fragt nach: »Das heißt, wenn sie es sich anders überlegt, kann den Adoptiveltern das Kind wieder weggenommen werden?«
Scherz nickt und betrachtet andächtig den Teller mit den Nussecken. »Ja, das kann passieren. Manchmal taucht zum Beispiel unerwartet noch eine Tante auf, die der leiblichen Mutter unter die Arme greift. Oder der Kindsvater. Wir denken immer, am besten ist es, wenn Kinder bei ihren Eltern aufwachsen.«
»Auch, wenn die Eltern ihr Leben nicht im Griff haben?«
»Wer beurteilt
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