Kleine Schiffe
verrückten Farben. Ihre Klamotten sind im Schrank verstaut, ihre Schuhe stehen ungewohnt ordentlich in Paaren an der Wand. Ihr Nippes, kleine Figuren, Karten, Souvenirs, drängelt sich in Zweierreihen auf dem untersten Regalbord. Das ist alles Tinas Werk, und ich bin ihr dankbar dafür, denn ich konnte mich bisher noch nicht überwinden, Lillis Sachen auszusortieren. Scherz blickt sich um. »Ich verstehe, das wird sicher erst einmal ein Gästezimmer, und später wird sich eines der Mädchen hier austoben können. Sehr schön!« Er stutzt. »Ach was, das ist mir beim letzten Mal gar nicht aufgefallen!« Er zeigt auf das Poster der Band »Die Befreiung«. »Die habe ich mal live gesehen! Vor zwei, drei Jahren war das.«
Ich versuche mir erfolglos den rundgesichtigen, korrekten Scherz mit seinem schlammfarbenen Wolljackett auf einem Live-Konzert vorzustellen. Er ahnt nichts von meinen Zweifeln und plaudert weiter: »Wer weiß, vielleicht waren Frau Urbschat und ich ja einmal gemeinsam auf einem Konzert. Die sind häufig im ›Knust‹ aufgetreten. Und da waren immer jede Menge hübscher Mädchen.« Er lächelt mir zu. »Der Leadsänger ist ein Kracher. Hat mich manchmal an Elvis erinnert.«
Aufatmend schließe ich wenig später die Tür hinter ihm. Obwohl mir Scherz immer wieder versichert, dass ich mir »wohl keine Sorgen« machen muss, werde ich erst völlig ruhig sein, wenn das Adoptionsverfahren durchgestanden ist. Und das kann dauern. Aber Lisa-Marie ist bei uns, und daran wird sich »wohl« nichts mehr ändern.
Während ich den Kaffeetisch abräume, denke ich darüber nach, wie drastisch sich meine kleine Welt verändert hat. Und sie wird sich weiter verändern – die Kinder werden wachsen, Simon wird nach Toulouse gehen, ich bleibe mit den Kindern zurück.
»Nicht völlig allein!«, hat Andreas bei unserem letzten Telefonat gesagt. »Ich bin ja auch noch da.«
Er hat uns neulich besucht und in einem kleinen Hotel im Schanzenviertel übernachtet. Am Samstag fuhren wir in den Wildpark Schwarze Berge, wo die Kinder die herumlaufenden Hängebauchschweine streicheln durften und – auf unseren Armen in Sicherheit – die anderen Tiere bestaunten. »Was meinst du, wie schön sie das finden, wenn sie erst größer sind!«, hat Andreas gesagt – es klang so, als hätte er fest vor, mit dabei zu sein.
Simon war an diesem Tag zu Vorgesprächen in Toulouse. Ich war darüber erleichtert, obwohl ich ihm mehrfach versichert habe, dass es keinen Grund für ihn gibt, auf Andreas eifersüchtig zu sein.
Tina glaubt, dass ich nicht ehrlich bin und Simon etwas vormache. »Natürlich hat er Grund, eifersüchtig zu sein! Andreas liebt Amélie, und ich denke, dass er auch dich liebt. Immer noch!«
Ich weiß noch nicht, was ich fühle. Andreas’ Gegenwart ist angenehm, und es rührt mich, ihn mit den Kindern zusammen zu erleben. Aber ich weiß auch von Andreas’ Freundin, und ich selbst fühle mich weiter an Simon gebunden, obwohl wir seit Lillis Beerdigung keine Nacht mehr miteinander verbracht haben. Das heißt, wir verbringen die Nächte häufig in einem Bett, aber wie auf eine geheime Verabredung hin schlafen wir nicht mehr miteinander. Trotzdem sind wir unvermindert zärtlich, nehmen uns in die Arme, schlafen eng umschlungen ein.
Die Unbeschwertheit zwischen uns ist verflogen. Ich spüre den Altersunterschied zwischen Simon und mir deutlicher. Für mich sind Amélie und Bim das Wichtigste – in seinem Leben steht er selbst im Mittelpunkt. Seine Karriere, sein Leben, sein Spaß. Er denkt an sich, ich denke an mein Kind.
Nadine, so hat sich herausgestellt, ist übrigens die Kollegin in Toulouse, die für die Mitarbeiter aus Deutschland zuständig ist. Papa weiß, dass Simon nach Toulouse will, aber er hält sich mit Vermutungen über unsere Beziehung dankenswerterweise zurück und behandelt Simon nach wie vor mit der für ihn typischen freundschaftlichen Knorrigkeit. Eines habe ich in den letzten Monaten gelernt: Papa weiß immer mehr, als er sagt. Und sicher, er ist ein alter Sturkopf mit Rollvenen, aber er hat ein großes Herz. Er mag mehr Menschen, als ich jemals gedacht hätte. Derzeit kümmert er sich geradezu rührend um eine alte Dame vom Seniorenmittagstisch, die an Alzheimer leidet, und er sitzt auch unter der Woche häufig mit Lucia und ihren Brüdern zusammen und hilft ihnen bei den Hausaufgaben.
Jetzt holt mich sein Gelächter aus meinen Gedanken. Er liegt auf dem Boden, während Amélie und Lisa-Marie
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