Kleine Schiffe
über den Verlust von Lilli ein Stück mehr. Am Ende spüre ich ihn nur noch als festes Band, das meinen Oberkörper umspannt und sich manchmal qualvoll zusammenzieht.
Nachdem ich mich zunächst dagegen gewehrt habe, etwas in der Wohnung zu verändern, packt mich nach dem Ausräumen von Lillis Zimmer die Renovierungswut. Papa und Tischlerin Sophie haben mit vereinten Kräften Lillis alte Möbel abgebaut, zerlegt und zum Trödler transportiert. Die Wickie-Wickelkommode haben sie in das Schlafzimmer der Kinder gestellt, die muss natürlich bleiben. Danach wurde Lillis Zimmer in einem hellen Zitronengelb gestrichen. Mit einer bequemen Schlafcouch und einem Schrank verwandeln wir Lillis Zimmer in ein Gästezimmer. Hier legt sich Papa auch gern hin, wenn er Babysitter ist. Nur das Poster der »Befreiung« hängen wir erneut auf.
»Ein bisschen mehr Befreiung täte allen gut«, sagt Papa. Als er meine fragende Miene sieht, zählt er auf: »Befreiung von der Steuer, von schlechter Laune …« Wir grinsen uns an.
Ich fahre fort: »Befreiung von Nieselregen.«
»Von Mundgeruch!«
»Befreiung von schlechter Rap-Musik!«
»Oder vom Shopping-Kanal!«
»Befreiung von Rollvenen.« Damit überschreite ich jedoch eine Grenze. Papas Gesicht verschließt sich. Er sieht wütend aus. Schnell versuche ich die Situation zu retten: »War nur ein Scherz.«
Papas Gesicht über dem Elchmotiv seines neuen Lieblingspullovers entfaltet erneut seine tausend Lachfalten. »Reingelegt!« Er nutzt meine Überraschung und nimmt mich kurz und herzlich in die Arme. Mittlerweile umarmen wir uns bei jeder Begrüßung. Unsere neuen Umgangsformen reißen Tina zu der Bemerkung hin: »Man könnte meinen, ihr wärt frisch verliebt.«
Damit liegt sie gar nicht so falsch. Seit unserer Aussprache ist das Eis zwischen Papa und mir geschmolzen. Ich habe erkannt, wie sehr die Angst, die er als allein erziehender Vater um mich hatte, sein Verhältnis zu mir geprägt hat. Andererseits scheint er mich mittlerweile auch besser zu verstehen.
Jetzt zieht mich Papa liebevoll am Ohr. »Entschuldige, die Sache mit den Rollvenen war eine Steilvorlage für mich. Aber es erschüttert mich doch, dass du mir nicht zutraust, einen Witz zu verstehen.« Er hebt kämpferisch seine Faust vor dem Poster. »Meine befreiten Herren, auch wenn ich von Ihnen noch nichts gehört habe: Die Befreiung von Rollvenen sollten Sie in Ihrem Repertoire nicht vernachlässigen.«
Nach Ostern beginnt Simon bei seiner neuen Arbeitsstelle in Toulouse. Die leidenschaftliche Anziehung zwischen uns hat sich auf Zehenspitzen aus dem Staub gemacht. Die Liebesnacht nach Lillis Tod war der Epilog unseres Begehrens – für ihn und auch für mich. Wir sprechen nicht darüber, und es herrscht das stillschweigende Abkommen, auf ein letztes romantisches Treffen mit Übernachtung zu verzichten.
Stattdessen verabreden wir uns am Vorabend seiner Abreise zum Essen in dem italienischen Restaurant »Da Leo« in der Weidenallee, einem unserer Lieblingslokale. Simon trägt ein weiches Jeanshemd, das mich an das Wiedersehen nach unserer ersten Nacht denken lässt. Er wirkt erwachsener als noch vor wenigen Wochen. Als ob er größer geworden wäre. Simon ist ein bisschen bedrückt, aber vor allem hat er Reisefieber. »Willst du wirklich nicht zum Flughafen kommen?«, fragt er.
»Tränenselige Abschiedsszenen liegen mir nicht. Außerdem möchte ich ungern deine Familie treffen.«
Simon grinst spitzbübisch. »Das wird meine Mutter enttäuschen.« Er nimmt meine Hand mit einer lässigen, fast unbeteiligten Bewegung – so wie man mit einem Kugelschreiber spielt, der auf dem Schreibtisch liegt. »Sie wird im nächsten Jahr fünfzig. Du bist also quasi ihre Generation! Sie hätte zu gern die Frau kennengelernt, mit der ihr Sohn …« Er zögert kurz, wirft mir einen unsicheren Blick zu und vollendet dann tapfer seinen Satz: »… zusammen war . «
Danach herrscht einen Moment lang Schweigen. Simon sucht meinen Blick. Ich nicke, und wir lächeln einander an. Sind erleichtert und doch ein wenig ratlos. Simon runzelt die Stirn.
»Mach nicht so ein Gesicht«, versuche ich die Situation aufzulockern. »Du hast nur ausgesprochen, was ich längst weiß – seitdem du erzählt hast, dass du nach Toulouse willst.«
»Da wusstest du mehr als ich.«
Er klingt so verletzt, dass ich es mit einer ironischen Bemerkung versuche. »Die Weisheit des Alters!«
Doch Simon bekommt das in den falschen Hals. Er fährt hoch: »Also
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