Kleine Schiffe
je.«
»Ja, als Wegbegleiter. Nicht mehr als einer, der dir den Weg bereitet . Und weißt du was? Das macht mich unglaublich stolz. Und wann immer du mich brauchst und ich es noch kann, werde ich da sein.« Er legt den Arm um mich. In dieser so ungewöhnlichen Haltung sitzen wir einen Moment lang. Ich bin genauso erschrocken wie er, als ich ihn küsste. Ich glaube, Arm in Arm haben wir noch nie gesessen.
Papa sagt: »Weißt du, ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich aufzupassen. Kannst du dich noch an unseren Ausflug nach Berlin erinnern? Als wir dich im Zoo verloren haben?«
»Natürlich. Warum?«
»Damals hat sie mir zum ersten Mal gesagt, wie krank sie wirklich ist. Wir haben dich überhaupt nur aus den Augen verloren, weil wir so mit uns und unserem Kummer beschäftigt waren. Wir wollten doch zusammen alt werden.« Er wischt sich über das Gesicht. »Nach der Geschichte im Zoo hat sie mir das Versprechen abgenommen, dass ich mich um dich kümmern werde. ›Das darf nie wieder geschehen!‹, hat sie immer wieder gesagt. ›Unsere Probleme und meine Krankheit dürfen nicht dazu führen, dass wir Franziska verlieren!‹« Er macht eine Pause. »Als sie dann nicht mehr war, hatte ich oft das Gefühl, versagt zu haben.«
Das ist alles neu für mich. Etwas liegt schwer auf meiner Brust, ich habe Schwierigkeiten zu atmen.
Und dann geschieht das, wovor ich immer die größte Angst hatte: Wir sprechen über Mamas Tod – und es fällt uns erstaunlich leicht. Im Halbdunkel von Lillis leerem Zimmer frage ich meinen Vater, warum er damals alle Pflanzen in Mamas Garten abgeholzt hat.
Er schweigt lange, aber er hält dabei meine Hand. Dann sagt er: »Als klar war, dass sie nie mehr nach Hause zurückkehren würde, konnte ich den Garten nicht mehr ertragen. Ich musste zerstören, was sie geliebt hat, um ihren Verlust aushalten zu können.«
Als Papa an diesem Abend nach Hause geht, umarmen wir uns lange schweigend. Er geht über den Hof, und bevor er durch die Einfahrt verschwindet, dreht er sich noch einmal um. Ich winke ihm nach. So wie ihm Mama auf dem Weg zur Arbeit nachgewinkt hat.
Dann steige ich die Treppe hinauf und öffne die Schublade, in der der Bilderrahmen mit Mamas Lieblingsgedicht zwischen meiner Wäsche liegt. Ich nehme ihn heraus, setze mich in meinen Sessel und lese halblaut:
Viele Drachen stehen in dem Winde,
Tanzend in der weiten Lüfte Reich.
Kinder stehn im Feld in dünnen Kleidern,
Sommersprossig, und mit Stirnen bleich.
In dem Meer der goldenen Stoppeln segeln
Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut …
In meiner Vorstellung überlagern sich die Stimmen von meinen Eltern. Ich höre meine eigene Stimme und doch ihre. Ich fühle mich wieder wie eines der kleinen weißen Schiffe, das über goldene Wellen segelt. Etwas einsam und doch zielsicher. Ich habe wertvolle Fracht geladen. Meine beiden Mädchen, Amélie und Lisa-Marie. Sie sind klein und zart, doch die Liebe meiner Eltern, Lillis Liebe und meine Liebe tragen unser kleines Schiff sicher durch Wellentäler und -berge. Lange sitze ich so an diesem Abend. Ich lege den Rahmen nicht mehr zurück in die Schublade, sondern stelle ihn auf die Fensterbank in meinem Zimmer, neben die Papierschiffchen, die mir Simon mit den Namen der Kinder bei ihrer Geburt ins Krankenhaus gebracht hat. Zweimal schleiche ich noch nach unten. Beim ersten Mal hole ich die ersten Schiffchen, die Simon gefaltet hat und die noch immer auf der Küchenfensterbank zwischen den Kräutern stehen: Jetzt habe ich meine eigene kleine Flotte. Beim zweiten Mal gehe ich zur Garderobe und nehme Lillis Lieblingslippenstift aus meiner Manteltasche. Jetzt beginnt etwas Neues, ich brauche keinen Talisman mehr. Ich stelle den Lippenstift wie eine Kerze vor den Bilderrahmen. Nach kurzer Überlegung lege ich noch ein Papier dazu, das ich seit Monaten hüte wie einen Schatz: Darauf sind, rot und blau, die Abdrücke der Händchen von Amélie und Lisa-Marie, die wir an Lillis Beerdigungstag gemacht haben. Einen Moment lang stehe ich vor meinem kleinen Hausaltar. Dann gehe ich endlich schlafen.
19. Kapitel
Du warst da
Als ich traurig war
Jetzt blick ich zurück
Und sehe ein gutes Jahr.
Bernd Begemann: »Irgendwie klappt es mit uns«
F ranziska, jetzt wird nicht mehr geheult!«, hatte Papa an dem Tag gesagt, als wir Lillis Zimmer ausräumten. Und als wäre das ein Zauberspruch, gelingt es mir in der folgenden Zeit, mich daran zu halten.
Mit jedem Monat schwindet der Schmerz
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