Kleine Schiffe
machen und wie wir den Tag verbracht haben. Mit geschicktem Fragen hat er aus mir herausgeholt, dass Simon nach Toulouse geht. Und unaufgefordert hat er mir mitgeteilt, dass er sich von seiner dänischen Freundin getrennt hat.
»Warum?«, habe ich gefragt.
»Ich hatte keine Lust mehr, ihr meine Vergangenheit erzählen zu müssen.«
Als Simon und ich an diesem Aprilabend nach Hause gehen, fühlt es sich sehr vertraut an, seine Hand zu fassen. In der Wiesenstraße küssen wir uns zärtlich, aber nicht leidenschaftlich. Simon hat mit den Jungs einen Abschiedsdrink auf der Reeperbahn abgemacht.
»Kein Angst, ich fahre mit dem Taxi!«, beruhigt er mich.
Wir küssen uns wieder.
»Ich melde mich.« Und dann sieht er mir tief in die Augen, schließt mich fest, so fest, in die Arme und flüstert: »Vergiss mich nicht völlig.«
Er macht sich los. Winkt noch einmal. Ist fort. Und ich weine noch nicht einmal.
So tapfer bin ich nicht, als im Mai Lillis Grabstein aufgestellt wird. Die Nacht davor wälze ich mich schlaflos in meinem Bett hin und her. Ich sehe Lilli vor mir. Lachend, tanzend, mit klimpernden Ohrringen. Ach, Lilli! Sie fehlt mir immer noch sosehr.
Tina, die mich begleitet, hat ein rotes Grablicht gekauft. »So ein kitschiges. Das hätte sie bestimmt gemocht.« Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich Blumen kaufen soll. Auch ein Grablicht? Doch dann blicke ich am Morgen aus dem Fenster meines Schlafzimmers in den Garten. Und als ob mir der Garten zuzwinkert und ein Geschenk für Lilli macht, blüht der Pflaumenbaum. Der, den Papa abholzen wollte, als ich eingezogen bin. Nun hat er kleine rosafarbene Blüten bekommen, die seine dunklen Äste umschmeicheln wie Badeschaum. Ich werde einige Zweige abschneiden und mitnehmen.
Tina holt mich wie versprochen ab. Ausgerechnet an diesem Tag steckt wieder einmal ein Schreiben von Pröllke im Briefkasten. »Das liest du erst nachher«, bestimmt Tina und bewundert die Pflaumenzweige. Mein Magen klumpt sich zusammen, wie immer, wenn Pröllke einen seiner unsinnigen Angriffe reitet. Nach der legendären Grillnacht hatte ich ihm eine Liste erstellt, auf der Lillis und meine Namen und die Namen der Kinder standen. Darauf hat Pröllke niemals direkt reagiert, sondern stattdessen immer wieder seltsame Schreiben geschickt, in denen er uns beschuldigte, den Hausfrieden zu stören. Immer neue Gründe fielen ihm ein: Die Kinder waren zu laut. In unserem Garten lag Müll. Unsere Fahrräder standen im Weg … Jedes Mal bekamen wir einen Schreck, informierten den Mieterschutzbund und schafften Abhilfe. Wenn Pröllke bei uns auftauchte, war er immer sehr kurz angebunden und stieß Drohungen aus. »Sie haben sich unter falschen Voraussetzungen hier eingeschlichen, Frau Funk! Das wird ein Nachspiel haben!« Aber geschehen ist noch nichts. Trotzdem habe ich immer Angst, wenn sich Pröllke meldet. Er hat nach Lillis Tod eine erstaunlich lange Zeit stillgehalten, und Frau Pepovic hat mir erzählt, dass er auf verschiedenen seiner Baustellen Ärger hat. »Die Krise, sagt er. Ich sage: Ist kein guter Mensch, Doktor Pröllke!«
Lillis Grabstein, ein schlichter, rechteckiger Stein, trägt nur ihren Namen und ihre Lebensdaten. Die Blumen und Kränze der Trauergemeinde sind längst fortgeräumt, aber es liegen frische Rosen auf der Grabstelle. Von Oliver? Vieles in Lillis Leben und Sterben wird ein Rätsel bleiben.
Nachdem sich der Steinmetz und der Friedhofsgärtner verabschiedet haben, stehen Tina und ich noch einen Moment lang schweigend vor dem Stein. Wir weinen, aber hier, unter den dichten, alten Bäumen fühle ich mich wundersam getröstet. Ein Gefühl, das sogar noch nachwirkt, als wir zu Hause im Garten sitzen, wo die Kinder und Papa uns erwartet haben. Es gelingt mir sogar, Pröllkes Schreiben ohne Zittern zu öffnen. Das formelle Schreiben besteht in einer Aufzählung von »Sommerlichen Verhaltensregeln in unserem Haus«. Die erste Maßregel lautet natürlich: Kein belästigendes Grillen!
»Der ist gestört!«, befindet Tina, und ich zerknülle das Schreiben einfach.
In der nächsten Zeit gehe ich häufig zum Grab. Dort kann ich mich auf meine Trauer um Lilli konzentrieren. Ich erinnere mich an sie, bespreche die Dinge des Lebens mit ihr.
Das tun übrigens fast alle Besucher des Friedhofs, wie ich bemerkt habe. Unsere Toten sind für uns weiter lebendig. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem Gang auf den Friedhof und der Trauer zu Hause. Daheim führt die Trauer
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