Kleiner Hund und große Liebe
dazu sagen, wenn er es erfuhr?
Ich hätte ihm so gern geschrieben, aber ich kannte ja seine Adresse nicht. Ich wußte nicht, wo in Europa er rumbuddelte und antike Scherben ans Licht brachte.
Nicht daran denken, Elaine! sagte ich streng zu mir selbst. Du kannst doch nichts machen. Fang endlich an, den Aufsatz zu schreiben, den du übermorgen abliefern mußt!
Das tat ich dann.
Der Fernsehtechniker
„Miriam, guck mal! Ich habe etwas für dich!“
Ich kam aus der Schule. Unterwegs war ich in der Foto-Drogerie gewesen, hatte Bilder abgeholt und gleich auch für Miriam Abzüge bestellt.
„Oh, da bin ich gespannt, Elaine! Nein, wie ist das reizend! Dies von Bisken und Anton - und das von dir und mir, das möchte ich Mutti schicken; sie wird sich freuen, wenn sie sieht, wie ich zugenommen habe! Du, das von deiner Mutti ist ja entzückend - und Marcus und Bisken! Sind sie wirklich alle für mich? Du bist lieb! Du, die kommen sofort ins Album, sie sollen nicht so in der Gegend rumliegen!“
Miriam holte ein Album aus ihrem Bücherbord, legte es auf den Tisch und suchte Klebepaste im Schrank.
„Darf ich das Album ansehen, Miriam?“
„Ja, natürlich, so lange du willst. Aber es ist nicht spannend, es sind nur Bilder von unseren Ferien und so was. Ja, die ersten wurden aufgenommen, als Vati noch lebte; die Kleine da mit den Zöpfen bin ich. Sonst, weißt du, habe ich ja keine Familienbilder, weil ich keine Familie habe!“
„Vermißt du es sehr, Miriam?“
„O ja. Irgendwie habe ich mich daran gewöhnt. Aber wenn du von deiner Tante Cosima sprichst, oder von deiner Oma, dann wird mir so traurig bewußt, daß ich nie in meinem Leben einen Menschen Tante oder Onkel oder Oma oder Opa genannt habe. Vati hatte zwei ältere Brüder, und die kamen auch ums Leben, so wie alle meine Verwandten. Meine Eltern wurden nur dadurch gerettet, daß sie als Pflegekinder nach Schweden kamen - aber, das weißt du ja schon.“ Ich nickte. „Ja, ich weiß es, Miriam.“
„Aber ein altes Familienbild habe ich doch“, fuhr Miriam fort. Sie blätterte zurück auf die erste Seite des Albums. „Dieses Bild hatte Mutti mit in einem Beutel, direkt am Körper, als sie damals nach Schweden kam. Das Foto und einen Brief von ihrem Vater an die unbekannten Pflegeeltern - und ihre Geburtsurkunde. Das Bild ließ Mutti abfotografieren. Das Original liegt in einem Banksafe.“
Sie schob mir das Album hin. Das Bild zeigte ein kleines fünfjähriges Mädchen zusammen mit den Eltern. Darunter hatte Miriam geschrieben:
Mutti mit ihren Eltern. Bratislava 1939.
Ich sah mir das Bild lange an. Ja, Miriam ähnelte ihrer Mutter.
„Und dies ist alles, was du noch aus der Kindheit deiner Mutter hast, Miriam?“
„Nein, ich habe viele Bilder von ihr, die in Schweden aufgenommen wurden. Und Mutti selbst hat drei Briefe von den Eltern an die Pflegeeltern. Dann hörten sie nichts mehr. Erst viel später bekamen die Pflegeeltern zu wissen, daß die ganze Familie ums Leben gekommen war - in Bergen-Belsen. Dann wurde Mutti adoptiert, und zum Glück bekam sie sehr liebe und gute Adoptiveltern. Sie kann sich nur ganz schwach an ihre richtigen Eltern erinnern, und von ihrer Muttersprache kennt sie nur noch ein paar Worte.“
„Und dein Vater? Weißt du nichts über seine Familie?“
„Nur daß alle tot sind. Alle! O Elaine, wenn du wüßtest, wie bitter es ist, so furchtbar allein auf der Welt zu sein! Und daß auch Vati so früh sterben mußte! Mutti und ich haben nur noch einander. Und weißt du, wir Juden sind - ja, wir sind sehr familienbewußt! Deswegen hütet Mutti die paar Erinnerungen von ihren Eltern wie ihren kostbarsten Schatz. Die Briefe - in vorbildlichem Deutsch geschrieben, ja, Muttis Adoptiveltern verstanden Deutsch -, ich habe sie öfter gelesen und dicke Tränen geheult! Mein Großvater hat die schwedischen Adoptiveltern angefleht, gebeten, sie möchten doch das Kind behalten - ich weiß, in dem letzten Brief steht: „Sie müssen verstehen, wenn Eltern sich zu der seelischen Amputation entschließen, die die Trennung von dem eigenen, geliebten Kind bedeutet, dann gibt es überwältigende Gründe dafür! Hier hätte unsere Tochter überhaupt keine Chance, könnte keine Ausbildung bekommen, würde eine Ausgestoßene sein, so wie wir es sind. Wir wissen von einem Tag zum anderen nicht, was mit uns geschehen wird, und der einzige Lichtpunkt in unserem unbeschreiblich schrecklichen Dasein ist die Tatsache, daß unsere Kleine in Sicherheit
Weitere Kostenlose Bücher