Kleiner Hund und große Liebe
der Stelle kam, an der ich damals Ingo getroffen hatte, wo sich Cora wie eine Verrückte losriß und dem kleinen grünen Auto nachlief, mußte ich vom Rad steigen. Ich konnte nicht mehr den Weg vor mir sehen. Ich wischte mir die Augen, wieder und wieder, und ich schob das Rad, bis ich an der Stelle vorbei war, wo das Auto damals gehalten hatte.
Dann hatte ich mich einigermaßen wieder gefangen. Ich durfte nicht in verheultem Zustand nach Hause kommen. Niemand durfte dies wissen - niemand durfte ahnen, wie weh mir das alles tat.
Ich hatte schließlich meinen Stolz. Und welches Mädchen will zugeben, daß sie sich in den Freund eines anderen Mädchens hoffnungslos verliebt hat?
Aber eins wußte ich. Ich mußte jetzt mehr Selbstbeherrschung aufbringen als jemals zuvor in meinem Leben.
Und das, was ich Miriam erzählen wollte, das mußte ich munter und fröhlich erzählen.
„Nimm dich zusammen, Elaine“, sagte ich mir selbst. „Nimm dich zusammen! Du hast doch deinen Stolz!“
„Na, du Trödelliese“, sagte Mama. „Hast du so lange beim Kaufmann warten müssen? Aber Kind, wie siehst du aus, hast du geweint?“
„Von wegen geweint!“ antwortete ich. „Mir ist ein Staubkorn ins Auge geflogen. Hier ist der Zucker, ich muß eben ins Bad und mir die Augen wischen! Blödes Staubkorn!“
Ein Traum wird begraben
Ich klaubte mein letztes Taschengeld zusammen. Das würde gerade für eine Stunde Reiten reichen. Also radelte ich an diesem Nachmittag los und mietete für eine Stunde ein Pferd. Mein Liebling, die Stute Ballerina, war zum Glück frei. Dann ritt ich raus ins Terrain, ließ Ballerina traben oder im Schritt gehen, wie sie wollte. Es war schön, allein auszureiten. Schön, nur die Nähe des Tieres zu spüren, zwischendurch den warmen Pferdehals zu streicheln - und in Ruhe nachdenken zu können.
Eins stand fest. Ich mußte so bald wie möglich Miriam alles erzählen. Aber wie?
Vielleicht könnte ich sie zum Weitererzählen bringen. Dann mußte ich so tun, als ginge mir plötzlich ein Licht auf. Ich mußte fragen, ob ihr Freund wohl zufällig Ingo hieße. Und dann mußte ich sehr, sehr überrascht sein - so etwa: Nein, ist das aber ulkig - was für ein Zufall - das ist aber lustig - ja, dann hast du wirklich einen prima Freund! -Ja, ungefähr so mußte ich mich ausdrücken. Und ich mußte dabei lächeln, mußte ganz unbeschwert sein - und später mußte ich fröhlich und eifrig meinen Eltern sagen: Könnt ihr euch denken, Miriam kennt den Ingo!
Ja. So mußte ich es machen.
Ich saß da auf dem Pferderücken und übte die Sätze ein. Ich trainierte den fröhlichen Gesichtsausdruck, ich sprach halblaut vor mich hin, zwang meine Stimme dazu, unbeschwert zu klingen.
Es war nicht leicht.
Aber es mußte gehen. Es sollte gehen! Denn, wie gesagt: Ich habe schließlich meinen Stolz!
Ich drückte die Hacken fest an Ballerinas Flanken, und es ging in sausendem Galopp zurück.
Die Gelegenheit kam am folgenden Tag. Miriam und ich waren beim Apfelschälen. Unten im Garten waren ein paar Apfelbäume -es waren Augustäpfel, sie waren jetzt gerade reif genug für das Apfelgelee, das Mama jedes Jahr für Mann und Sohn kochen muß. Ein ganz feines Rezept, es stammt von meiner kochfreudigen UrOma, und sie hatte Mama nahegelegt, nie ungeschälte Äpfel zu benutzen.
Also standen wir da und schälten. „Du, Miriam“, sagte ich (lieber Gott, mach, daß meine Stimme natürlich klingt!), „wir wurden gestern unterbrochen, als du mir von deinem Freund erzähltest.“
„Ach ja, richtig. Aber es ist eigentlich nichts mehr zu erzählen.“ „Na, das bezweifle ich“, sagte ich. (Oh, hoffentlich klang meine Stimme recht munter und freundlich neugierig.) „Du hast gar nicht erzählt, daß du dich restlos in ihn verliebt hast!“ Eine feine Röte stieg in Miriams Wangen.
„Nun ja, das habe ich wohl vielleicht“, gab sie zu.
„War es denn nicht schwer für dich, Lübeck zu verlassen?“
„O nein. Er ist ja nicht mehr da. Kurz nachdem er vom Sommerurlaub zurück war - ja, ich sagte dir doch, ich habe ihn nach dem Urlaub nur einmal kurz getroffen, und er sprach nur von seinem Hund - ist er ins Ausland gefahren. Eine Stipendienreise. Er studiert Archäologie.“
Jetzt, Elaine, dachte ich. Jetzt!
Ich ließ das Messer sinken und sperrte die Augen auf, richtete den Blick direkt auf Miriam.
„Archäologie - und Hund wiedergefunden - jetzt fällt bei mir der Groschen! Du, Miriam, heißt dein Freund zufällig Ingo? Und der
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