Klemperer, Viktor
spricht er von der Undeutlichkeit der engl. Sprache als von einem politischen Hilfsmittel. Dabei beruft er sich auf * Winston Churchill. Ich will mir das bereits abgelieferte Blatt von * Steinitz zurückgeben lassen u. das Citat aufschreiben.
Neue Talmudfrage, aber lebensgefährliche. Es ist Vorschrift für Juden, nur den Vorderperron der Elektrischen zu benutzen, das Innere des Wagens nicht zu betreten. Seit vorgestern tragen die Bahnen große Aufschrift neuer Verkehrsregelung: Nur vorn Aufstieg, Nur hinten Ausstieg. Welchem Gebot soll der Jude nun beim Absteigen folgen? Jede Gebotsüberschreitung kostet ihn, via Gefängnis u. Lager, das Leben. Die Frage wird leidenschaftlich erörtert; ihre Entscheidung werde ich notieren.
Mischeheleute, wenn er Jude, sie Arisch, umgekehrt ist es nicht ganz so schlimm, haben jetzt allen Grund umeinander besorgt zu sein: stirbt sie , kommt er nach Theresienstadt; stirbt er , verfällt seine Hinterlassenschaft dem Staat. Feu * Cohn beging den Fehler, ein nun wirkungsloses Testament zu hinterlassen. Darin heißt es, er habe zu Anfang des 3. Reiches, als er auswandern wollte, seine Möbel verkauft u. die Möbel seiner bereits ausgewanderten Geschwister übernommen; er hinterlasse nun diese übernomenen Möbel anstelle ihres eigenen Heiratsgutes seiner * Frau. Das wird jetzt nicht anerkannt, man beraubt die Witwe. Gestern war der Finanzbeamte hier. Frau C., sonst ruhig, sagt mit funkelnden Augen u. totenblaß, er sei ein Hund u. bedrohe sie bei jedem Stück, das sie retten wolle, mit Gestapo u. Partei. (Die Partei ist für uns hier durch den Judenpapst * Köhler vertreten, der erst neulich wieder die Misch-Ehefrauen u. -Witwen für Huren erklärt hat. [‹] Sus pinguis, 9 già Gerichtsschreiber[›].) Bestimmung ist: alles Eigentum, jede Hose, jeder Strumpf des jüdischen Mannes gehört dem Staat. Die Frau darf nur ihr Eingebrachtes u. ihr persönliches Eigentum behalten. Deshalb verschleppen, verbergen, verschieben die Witwen, was irgend möglich. So erbte ich von Cohn Strümpfe u. Handschuhe. Von * Stühler sollte ich ein Paar Schuhe erben; sie paßten mir, ich behielt sie einen Tag in unserm Zimmer; dann gab ich sie zurück – es war mir allzu widerwärtig, hier vor den Augen der * Witwe in den Schuhen ihres Mannes herumzulaufen. Schuhe sind sichtbarer, ostensibler als Handschuhe u. Strümpfe.
Scharfer Frost, Mementoherzbeschwerden beim Brüheweg. Nun müßte die russische Offensive komen. Vielleicht daß ihr gelingt, was im Westen gescheitert scheint.
Seit dem * Hübner-Artikel gehen mir wieder einmal Personal- u. Kathederfragen durch den Sinn. Komt der Umschwung, komt zum Schluß so dürfte * Neubert nicht in Berlin bleiben. Dann ist die Stunde für Curtius da, von dem es still geworden. Auch für * Lerch u. * Hatzfeld. Sie wäre es auch für mich, wenn ich nicht 63 Jahre alt wäre. Ich habe die meine endgiltig verpasst.
Abends . Mittags, 12–12 35 wieder der übliche Alarm. Ohne Schuß u. Keller.
Am späteren Nachmittag zuende vorgelesen (cf. gestrige Notiz) * R. Katz: Schnaps, Kokain u. Lamas. Die überall durchschimmernde Grundgesinnung kommt zum Schluß in einem hübschen Abschiedsgedicht am Ende der mehrjährigen Weltreise noch einmal zum Ausdruck: Wir wollten fremde Völker verstehn / Und nicht glauben, nur wir seien tüchtig; / Und wir haben tatsächlich des öftern gesehn, / Daß Fremde andere Wege gehen / Und ihre Wege sind richtig. – Daher kommt seine Liebe zu Deutschland wiederholt u. stark zum Ausdruck: Freude über die stille Tüchtigkeit deutscher Farmer am Urwaldrand in Ost-Peru 69; Kränkung über die Zwistigkeiten innerhalb einer deutschen Kolonie in Chile 162; Lob für eine biedere deutsche Wanderbühne in Chile (die mit Recht vor diesem Kolonistenpublikum * Anzengruber 1 u. * Thoma 2 spiele u. nicht * Sternheim u. * Georg Kaiser!) 173; und vor allem tiefe Bitterkeit beim Lesen einer Zeitungsnotiz, daß es am 1. Januar 31 in Deutschland 4,3 Millionen Arbeitslose gegeben habe. Er macht aber keine deutsche Regierung dafür verantwortlich. Weltkrise! Auch im reichen Brasilien mit seinem Menschenbedürfnis gibt es zur Zeit Arbeitslose u. Hungernde! Möglich daß es dort einmal zu Revolution kommt; es leben dort Menschen aller Farben friedlich zusamen u. helfen einander, wenn sie nur irgendwie halbwegs satt werden. Das ist der Unterschied zwischen dem Riovolk u. dem unsern. Dem unsern sind Partei- u. Rassenprobleme wichtiger als der Brotpreis 247. Vorher,
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