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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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die Köpfe an der Hausmauer zerschlagen habe. Gleich darauf las L. mit äußerstem Schauspielerpathos tiefster Entrüstung aus der DAZ vor, welche kulturschändlichen Verwüstungen der letzte englische Terrorangriff auf Nürnberg angerichtet habe, wieviele Patrizierhäuser, Kirchen etc. zerstört seien. Ich fragte ihn, ob er wisse, wer die Synagoge in Nbg. 4 zerstört habe u. den Tower in London, ob er wisse, wieviele Fabriken in Nbg. für den Krieg arbeiteten. Ich sagte ihm, ich finge an rot zu sehen, wenn ich bloß das Wort deutsche Kultur hörte. – L s Sohn, Mischling u. bei der OT, ist nach wie vor verschollen. Vielleicht in Gefangenschaft, vielleicht aber auch tot. Der Vater scheint geringe innere Beziehungen zu ihm zu haben, der * Sohn auf der Seite der * Mutter zu stehen, u. diese Ehe dürfte die ekelhafteste sein, von der ich bisher gehört habe. Er spricht von ihr im wegwerfendsten Ton, u. sie scheint ihm sein Judentum vorzuwerfen, freilich auch wenig Gutes von ihm erfahren zu haben.
    19 30 h Bisher zwei kleine Mittagsalarme, 13 10 –13 15 u. 14 30 –14 40 , winzig aber doch beunruhigend, besonders der zweite, denn ich hatte eben die Kartoffeln gar, als er begann.
    – Eben bringt * Frau St. die Zeitung mit dem Heeresbericht. Er bestätigt genau die gestrige englische Meldung, u. der Kommentar hat ernsten Ton. (Natürlich mit Siegeszuversicht).
    Immer u. überall Aberglaube. Gestern im Keller sagte mir * Schwarze noch, er sei hier bekannt gewesen mit einem jüdischen Dr phil. et med * Milch, einem Vetter des * Feldmarschalls, 1 den man vor 2 ½ Jahren etwa deportiert habe. Milch war ein bißchen Hellseher. Er sagte damals, der Krieg werde erst 1945 zuende sein. Wir lachten ihn aus. Er nannte jeden Tag eine Parole, die Zahl der noch vor uns liegenden Kriegstage. Vor seinem Abtransport schrieb er mir in ein Buch: ‹Parole 994›. Ich habe nachgerechnet, das weist auf den 12. 4. 45. Schw. erzählte das ganz gläubig. –
    Zur LTI: Es hiess erst Westoffensive, dann Abnutzungs- oder Winterschlacht im Westen, jetzt heißt es Abwehrschlacht.
    Nach langer Pause unterrichtete ich heute wieder * Bernhard St., zum erstenmal seit seiner Krankheit. Es ist eigentlich ein sehr eigentümlicher Unterricht, immer wieder auf Fremdwörter u. Allgemeines eingehend. Der Junge ist intelligent u. interessiert, aber ohne alle Bildung als Kriegsjudenkind aufgewachsen. Von allem weiß er nur Ungefähres, oft Falsches. Was ist das ‹originell›? – Komisch?[] Nun erkläre ich: Origine, 2 original, 3 originaire. 4 Ähnliche Fragen u. Antworten komen Stunde für Stunde vor. –
     

 
    Dienstag Vorm. 16. Januar 45 .
     
    Zur LTI. Der um seinen Auftrag wissende deutsche Soldat – aus einem Kriegsbericht vom 15/I. (Dr. Z. 5 ). Warum ist Auftrag ein so beliebtes Wort, es steht doch offenbar für Mission oder Parole? Im allgemeinen ist doch das Fremdwort feierlicher. Aber AUFTRAG ist seltener, ist privater, persönlicher u. damit inniger, gefühlsnäher (natürlich auch als Befehl Befehl), gehört auf der andern Seite dem Alltag an, dem es nun wieder einen ethischen Sinn verleiht. Sendung, Mission wäre zu feierlich, zu unprivat. – – Notierte ich neulich dies? An * E. s Adresse kamen 4
tb
Brodmarken mit herzl. Gruß u. in Eile Ihre Käthe. Ich sagte zu * Frau Cohn: Wir können die Absenderin nicht herausbekomen; unsere Freunde zeichnen nur mit ihren Vornamen, u. der ist auch nicht der richtige. Darauf Frau Cohn (die übrigens als Witwe merkwürdig auflebt u. sich verjüngt u. erheitert): Bei uns war das genau so.
    * Lewinsky erzählte neulich, er könne sich nicht mehr beim Friseur rasieren lassen; das gebe es nur noch, wenn man eigene Rasierseife mitbringe. Kopfwaschen dürfen die Friseure überhaupt nicht mehr.
    Abends nach 20 h . Hurra wir leben! Dresden hatte das drittemal ernsten Angriff. Alarm kam um 11 30 . Ich las ruhig weiter im peinlichen * Pleyer. Um 12 wieder Sirene, ich glaubte Entwarnung, sie heulte Vollalarm. Langsam in den kaum besetzten Keller. Dann kamen andere: Radio berichtete, Geschwader im Anflug, 50 km, 30 km entfernt. Ich stand vor dem Keller mit * Werner Lang u. * Neumark. Ich vermutete E. bei Maxe, der Berlinischen Großküche in der Walpurgisstr., oder bei * Gertrud Schmidt in der Winckelmannstr. Wir hörten Anflug, eine Reihe Detonationen, Einzelschläge, nicht den Doppelknall der Geschütze. Wir gingen in den Keller. Stärkstes Summen der Flieger dicht über uns, der Luftdruck schüttelte die

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