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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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u. Hacke abzuliefern ... Während u[ns] Schwarz so alarmierte, klingelte draußen * Berger; er wollte nicht hereinkomen, als er Schw.s Anwesenheit erfuhr. (Die Leute sind immer untereinander verzankt); ich fragte ihn, ob er etwas über Vormarsch auf Dresden wisse. Er sagte, das sei Unsinn, er habe erst vor wenigen Stunden London gehört. Aber heute früh berichtete * Frau Cohn via * Leni: das Schanzen gehe schon seit zwei Tagen; in Pillnitz habe gestern Brod gefehlt, weil die Bäcker mitgeschanzt hätten. Auch in Kesselsdorf u Coswig werde gearbeitet. – – Die Folgen für uns persönlich können furchtbare sein. Unsere Möbel hier u. – noch näher der Elbe – bei Thamam Ludendorff-Ufer. Meine Mss, Arbeit all dieser Jahre, in Pirna. Und mein besterntes Leben? Mich wird man nicht evakuieren, nicht zum Schanzen verwenden, nicht lebendig den Russen überlassen. –
    Weiternotieren bis zum letzten: Merkwürdige Psychologie der Frau Cohn. Mit weinenden Augen, sie habe treu zu ihrem * Mann gehalten, sie sei auch noch judenfreundlich, sie hänge nicht am Leben – aber in der Gemeinschaft wolle sie nicht sterben, sie wolle hier heraus. (Sondererbitterung, daß man ihr den arischen L-keller verweigert, daß man sie ihre Marken an einer Mischlingsstelle holen läßt!). Merkwürdige Psychologie Frau Cohns u. * Frau Stühlers: sie wissen immer schon alles, was wir ihnen aus verbotener Quelle erzählen; aber sie behalten ihr Wissen immer mißtrauisch für sich. Jeder hat vor jedem Angst.
    Ein Curiosum aber gab Frau St. gestern preis: Durchgegebener Befehl an arische Häuser, keinem bettelnden Soldaten Brod oder gar Quartier zu geben, aufdringliche geradezu hinauszujagen. (Es sollen, erzählte Schwarz ) allein in Dresden durch die Patrouillen rund 700 Deserteure verhaftet worden sein.[)]
    Nachm 15 h . Ganze anderthalb Stunden, von 11 35 –13 05 war kleiner Alarm, ein paarmal wurde in weiter Ferne geschossen, sonst blieb es still. Wir sagten u. sagen uns aber, daß der nächste Bombenangriff den Häusern am Fluß gelten könnte. Ich ließ mich durch den Alarm nicht in meiner Hausordnung unterbrechen: Diele, Closet, Badezimmer, Speisekamer, Küche waren zu scheuern, das Dielenfenster zu putzen. Immer unter dem Gedanken: wo bin ich, wenn es das nächstemal an mich fällt? – Frau Stühler brachte Nachricht herauf, daß * Hesse Briketts zum Verkauf liegen habe. Disput zwischen Frau Cohn u. mir, ob wir welche holen sollten. Sie entschied sich dafür, ich mich dagegen. Motto: Wem hab ich gesamelt? Bis Anfang März sind wir eingedeckt; die nächsten Tage müssen entscheiden, was Anfang März mit uns sein wird. – Ich habe um 5 Uhr * Bernhard St. zu unterrichten (der genauso gefährdet ist wie ich); danach werde ich zu * Waldmann oder * Eisenmann gehen u. fragen, wie sie die Lage ansehen, u. ob sie irgendwelche Maßnahmen treffen. Ein Nonsens natürlich, denn sie wissen u. vermögen ebenso wenig als ich. Dennoch werde ich gehen.
    * Arnold Ulitz Aufruhr der Kinder. Propylae[e]nverlag Berlin. (Ullstein) 1928. Vorher in Voß. Ztg.
    Das Buch hat gute Einzelscenen, muß aber eine vielleicht nachgebesserte Jugendarbeit sein. Es ist unproportioniert, es verteilt das Interesse, es schwelgt zu sehr in Extremen, um Allgemeingültigkeit zu haben. Erst ist man gefesselt durch das Ehepaar Berger mit den unrentablen Talenten. Die unrentablen Talente sind das immer wiederholte Stich Motivwort dieses Teils. Halbkünstlerische, unbösartige aber oberflächliche Geschöpfe, die sich in Gesellschaft fühlen müssen, darin glänzen u. sich ausgeben, sich ausbeuten lassen. Er, der Photograph, geht vor 40 seinem 40. Jahr als Rückenmärker 1 zugrunde, sie, ihm gleichaltrig, spielerisch, alkoholisiert, liederlich, hilft in einem Restaurantbetrieb, sinkt ins Dirnenhafte, stirbt dem Manne bald nach. Die unrentablen Talente in kleinbürgerlichem Kneipenmilieu großartig geschildert. Dann sind die Kinder die Helden. Olly, die Tochter, Schlangenmensch mit Circusengagement, entschwindet dem Leser wie ihre Eltern. Bleiben Berger I u. II elf u 12jährig als Waisenhauszöglinge, eigentlich bleibt nur Berger II, der künstlerisch Begabte mit der starken Phantasie u. Leidensfähigkeit des künftigen Malers. Nun ist Thema das Waisenhaus mit seiner Härte u. Lieblosigkeit u. Armseligkeit in der Wirkung auf den sensiblen Jungen. Hier heißt das wiederholt auftretende Motiv: Ordnung, Gesetz, System, natürlich in ihrer Überspannung als Todfeinde des Kindes, der

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