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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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charakteristisch, u. die im Bereich eher des Wahrscheinlichen als des Möglichen liegen. * Frau Stühler Nachmittags bei arischen Freunden mit wesentlichen Beziehungen, darunter ein großes Nazischwein von der SS. Dessen Frau habe gejamert: Mein Mann sagt, wir müssen uns erschießen, aber wir können doch nicht die Kinder erschießen! – Alles sei zur Evakuierung Dresdens vorbereitet. – Breslau sei von den Ariern evakuiert, aber die Juden habe man in der Stadt gelassen. – Auslandsfunk gebe durch, man solle sich mit Proviant für drei Wochen versehen – (tu parles! 2 ) – u. ihn nach Möglichkeit vergraben, jedenfalls nicht in der Wohnung lassen. – An Deserteuren habe man in Dresden bereits siebzehntausend (sic, nachdem es vor zwei Tagen 700 waren!) eingebracht, sie kämen in Sturmbataillone (!), hinter denen schußbereite Wächtertruppe stünde. – * Freisler, der Praesident des Volksgerichtshofes, der die Attentäter des 20 Juli so hundsföttisch behandelte, u. der in der Ztg als Opfer des letzten Terrorangriffs auf Berlin gemeldet wurde, sei in Wahrheit von Offizieren gehenkt worden , 3 u. zwar genau so, wie er die Hinrichtung der Verurteilten damals angeordnet habe: langsam, u. indem man den Strick ein paarmal lockerte. – In Berlin habe es Unruhen gegeben, die Rebellen seien aber zusamengeschossen worden. – – All diesem fügte vorhin im Kohlenkeller * Waldmann einen Tatsachenbericht zu: er habe gesehen, wie Soldaten an den Pfeilern der Carolabrücke arbeiteten, er habe auf Minierung geschlossen. Er glaubt, daß nun die nächsten Tage unser persönliches Schicksal entscheiden werden. Irgend eine Vorbeugung hält auch er für unmöglich. In Schicksals Hand.
    Ich erhielt das Reich bisher von * Steinitz geliehen. Das diesmalige Exemplar (vom 11. II. also) konnte er selber nur ausleihen u. brachte mir daraus ein paar charakteristische Bleistiftexcerpte aus * Goebbels[ ] Leitartikel. Möchte es sein letzter sein! Glaubt man denn, daß die deutsche Führung ihrem Volke, aus dem sie doch selbst hervorgegangen ist, u. dem ihr ganzes Herz gehört, ein derartiges Übermaß an Leid, Not u. Sorge zumuten würde, wenn es einen anderen Weg aus der drohenden Gefahr gäbe? Sie weiß genau, daß das, was wir heute alle zu ertragen haben, nur ein schwacher Vorgeschmack dessen wäre, was an dunklem Schicksal u. Verhängnis über uns hereinbrechen würde, wenn wir in diesem Kampf versagten, oder ihn im Vertrauen auf die Großzügigkeit oder das Entgegenkommen eines unerbittlichen u. rachsüchtigen Feindes resigniert u. abgestumpft vor dem Siege abbrächen .. Wir hätten schon ein paarmal im Lauf der Geschichte das Abendland, das verzweifelnde, verteidigt, in wilden blutigen Schlachten, von denen noch die Fama der Nachwelt zu berichten wußte, daß nach ihrem Abschluß die Toten in den Lüften weiterkämpften, 4 u. jedesmal hat am Ende doch das deutsche Reich als die Vormacht des Kontinents den Sieg davongetragen. – – Wenn es nicht so schamlos u. so mörderisch wäre, müßte man es bewundern. Goebbels, die eiserne Schnauze! –
    Bei * Frau Cohn war gestern eine alte Dame zu Besuch. Sie erzählte, ihr sei geraten worden das * Hitlerbild aus ihrer Wohnung zu entfernen, am besten es aus dem Rahmen zu nehmen u. etwas anderes hineinzustecken. Ich habe ihn eingeäschert.
    * Arnold Ulitz: Der Schatzwächter. Novellen. 1928
    Neun oder zehn der vierzehn Novelletten las ich vor, dann wurde es uns zu langweilig, u. ich las aus Pedanterie den Rest für mich. Ich denke mir, Ulitz wird 1918 etwa Primaner gewesen sein und damals u. bald darauf diese Skizzen geschrieben haben, die er dann später gesammelt herausgab. Im Stil sind sie alle nur mild expressionistisch. (Vier Wochen schon, ehe der Cirkus wirklich kam, warf er Getöse, schleuderte er Farbigkeit über die Stadt und den ganzen Landkreis ringsum 123. – Freude berieselte den braven Bürger, der das Wurmstichige liebte u. die Fäulnis gerne roch 158 Etc. etc, aber niemals Gewalt gegen Gramatik u. Verständlichkeit angewandt). In der inneren Haltung aber durchaus revolutionär, exaltiert, verkrampft. Selten geht es ohne Mord ab, vieles ist rein psychopathisch, der Bürger spielt immer eine peinliche Rolle, der Literat ist verächtlich, der verkomene Künstler, der die Wohltat des Bürgers hinschmeisst (bis 5 ! Der große Wohltäter Bruder, Der Wohltäter) ist der wahre Mensch. Aber auch der gebo geborene Mörder ist nicht zu verachten, u. sehr sympathisch ist dem Autor

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