Klemperer, Viktor
– von den Russen überholt werden u. gut behandelt worden seien; um nur die antirussische Greuelpropaganda weiterzutreiben, verbreite man jetzt (was wir auch schon gehört haben), die Russen sagten: Wir tun euch nichts, aber lauft, denn hinter uns komt der Komissar! Der Komissar, das ist der jüdisch-bolschewistische Komissar, das ist der Bluthund kat exoxnn.
Aus dem Reich vom 4/II. * Goebbels Artikel: Das politische Bürgertum vor der Entscheidung. Immer wieder das gleiche. Der deutsche Natsoc. kämpft für Europa, auch für England, u. Europa verhöhnt es, befehdet es, wirft sich dem Bolsch. in die Arme. Aber wir haben es längst einsehen gelernt, daß es völlig zwecklos ist, angesichts dieses geradezu perversen Zustandes Alarm zu schlagen. (Tun es aber doch immer wieder u. glauben an den Endsieg. Und stellen immer wieder als Selbstverständlichkeit auf, die nicht erst bewiesen zu werden braucht: daß der Bolschewismus Verzweiflung, der Natsoc. Erhaltung u. Entwicklung der Kultur bedeute.) – Zur LTI aus der gleichen Nummer. 1) die Treks Trecks. 2) mit der Ostoffensive der Russen aufgetaucht: Die wandernden Kessel. Kessel, Kesselschlachten usw. waren das Wort beim Eroberungsfeldzug durch Rußland. Dann wurde es still davon, wie vom Blitzkrieg. Und jetzt, wenn sich eine überspülte Division zu retten vermag, ist sie ein wandernder Kessel. (Wir werden es de m Iwan schon geben, schrieb der Junge aus * Steinitz Bekanntschaft, der nun mit fortgeworfenen Waffen wochenlang gelaufen u. schließlich mit erfrorenen Füßen schmutzverkrustet angelangt ist. So sehen die rückwandernden Kessel aus.) 3) In einem unpolitischen Artikel über Operationen mit dem Steinmesser heißt es bei Daten wiederholt statt a. C. 1 : v. u. Z., 2 so 1500 v. u. Z. Was ist unbeliebter, Christus oder Latein? – – E. hat wieder beim Essen im Restaurant einen Ohnmachts- u Herzschwäche = Anfall gehabt. Ich kann ihr keinen Arzt, keine Medizin, keine bessere Nahrung, keine Ruhe verschaffen. Es ist trostlos.
Sonntag Vorm. 11 II.
Ich brachte * E. das Frühstück ans Bett; * Frau Cohn hat ihr gestern eine Winzigkeit echten Tee (3 Portionen) gestiftet. Sie ist frischer aber doch schwach, u. ich kann sie nicht pflegen u. nicht ruhig halten. Gestern Abend lieh ich mir Kartoffeln von * * Eisenmanns (aus der Zeughaus 3 also). Unsere Essnot wird immer größer, E ißt immer weniger, ich selber stopfe Kartoffeln u. trockenes Brod, u. beides geht zu Ende. Die Russen sind langsam geworden, die Angloamerik. komen nicht vorwärts, so kann es noch Monate dauern. –
Neuestes Gerücht, darauf basierend, daß überall in den Straßen schärfste Militärkontrolle von Soldaten u. SA ausgeübt wird: es seien russische Fallschirmer in deutschen Uniformen gelandet u. hielten sich versteckt. Ich glaube daran fast so wenig wie 1914 an die vergifteten Brunnen; aber bei der Masse russischer Leute, die auf deutscher Seite in deutscher Uniform hier Dienst tun, ist ein Unterschlüpfen natürlich nicht vollkomen ausgeschlossen. Widerum: was könnten einzelne Fallschirmer hier ausrichten? Und, das sagt E., wozu die Kontrolle? Gute Pässe hätten diese Fallschirmer sicherlich. Freilich sagt E. auch: wozu das Schanzen? Es halte ja doch nicht auf.
Abends nach 19 h Vormittags waren Eisenmann sen. u. * Steinitz hier. St: ein Individuum zwischen Mann u. Herr habe ihm eben am Briefkasten, seinen Stern fixierend, in slawisch gebrochenem Deutsch gesagt, er solle in den nächsten Tagen lieber zu Hause bleiben. Im Hinundherwälzen kamen wir vier zu der Meinung, daß damit weniger auf ein Pogrom als auf einen Aufstand der vielen Ostarbeiter hingewiesen sein könnte, u. daß dem Gerücht von den Fallschirmrussen vielleicht doch Glauben zu schenken sei. Aber alles ist rätselhaft u. in Schicksals Hand. – Eben eine Weile bei * Witkowski, dem vitalen Moriturus. Da kam * Frau Spanier mit der Nachricht, sie habe am Bahnhof Flüchtlinge gesprochen, die sagten, die russischen Panzerspitzen (LTI. neu!) stünden bei Görlitz .. Und * Frau Stühler bringt aus der Stadt mit: im Osten Liegnitz, im W. Cleve genomen. – Eisenmann sen. brachte mir bei: Ja Gewree 1 : ich bin Jude. Er sprach von drei Gefahrwellen; die erste: plündernde Ostarbeiter, die zweite: rückfl rückflutende deutsche Truppen, die dritte: eindringende Russen. Er vergaß dabei, was ich am meisten fürchte: die Gestapo.
12. Februar 45, Montag Vorm.
Gerüchte, die mindestens als solche
Weitere Kostenlose Bücher