Klemperer, Viktor
die Beschwerden u. das Memento, so wäre es nicht unglücklich.
17/9. Dienstag
Während ich gestern schrieb hatte der Reichstag in Nürnberg schon die Gesetze für das deutsche Blut u. die deutsche Ehre 1 angenomen: Zuchthaus auf Ehe und ausserehelichen Verkehr zwischen Juden u. Deutschen, Verbot deutscher Dienstmädchen unter 45 Jahren, Erlaubnis die jüdische Flagge zu zeigen, Entziehung des Bürgerrechtes. Und mit welcher Begründung u. welchen Drohungen! Der Ekel macht einen krank. Abends kam * Gusti W. zu uns, sich ausklagen, sie sagte: Schiwe sitzen 2 . Aber die Juden interessierten sie nicht. * Hitler habe Litauen bedroht, Deutschland werde im Bunde mit England die Russen schlagen, den Communismus vernichten. –
Sonntag 29. 9.
Die Nati Economistes 3 fertig, die Literaten in Vorbereitung. Langsam u. ermüdet. Bisweilen glaube ich, es wird mein bestes Buch, bisweilen: eine unnütze Compilation u. Abschreiberei. Das absolute Concentriertsein nimmt mich auf die Dauer sehr mit; aber es ist einziges Gegengift gegen die Verzweiflung der Lage. Ich habe den Eindruck, daß eine Explosion bevorsteht, ich rechne mit Pogrom, Ghetto, Geld = u. Hausentziehung, mit allem. Vielmehr: ich rechne mit nichts. Ich warte dumpf u. hilflos. –
5. Oktober, Sonnabend .
Gott in der Geschichte: * Gusti W. sagt: * Hitler hat die Bewegung um mindestens 30 Jahre beschleunigt, er arbeitet für den Sieg des Communismus. – Isakowitz sagt: In 50 Jahren wird man wohl erkennen, daß er komen mußte, damit die Juden wieder ein Volk würden (Zion!)
Es machte sich so, daß wir in den letzten Wochen an 2 Tagen je 2 x mit * Isakowitz zusamen waren. * Eva hatte unvermutet eine kleine Nachtragreparatur nötig; an den Abenden beider Tage waren die drei * * * I. s das erstemal unsere Kaffeegäste, das zweitemal unsere Wirte, leider bei einem Revanche fordernden Souper, u. dies am jüdischen Neujahrstage. Es ergab sich, daß I s orthodoxer sind, als wir gewußt hatten; der Mann kam aus dem Tempel (seit 30 Jahren hab ich das Wort nicht mehr gehört), er las bedeckten Hauptes ein Thorastück, auch mir wurde ein Hut aufgesetzt, Lichter brannten. Es war mir sehr qualvoll. Wohin gehöre ich? Zum jüdischen Volk dekretiert H. Und ich empfinde das von I s anerkannte jüd Volk als Komoedie u. bin nichts als Deutscher oder deutscher Europäer. –
Die Stimmung an beiden Abenden war die gedrückteste. I. fürchtet in jedem Augenblick, die Kassenpraxis zu verlieren u. damit um seine Existenz zu komen. Seit langem erwägt er Auswanderung nach Palaestina. Ein Arier will ihm längst seine Praxis um 15 000 M abkaufen. Er entschließt sich endlich zu diesem Verkauf – schwersten Herzens, denn in Palaest. soll es in jedem Haus mindestens einen Arzt geben –, da werden im letzten Augenblick diese Verkäufe einer jüd. Praxis verboten. Weßhalb? ist noch nicht gewiß. I. fürchtet das Schlimmste u. verharrt im Ungewissen. – * Seine Frau hatte sich in Berlin auf dem jüdischen Rathaus in der Meinekestr., d.h. der Beratungsstelle der Zionisten, die jetzt alle deutsch-jüdischen Interessen vertritt, erkundigt. Panikstimmung, Gewimmel von Menschen, zerbrochene Fensterscheiben vom letzten Krawall, die man ostentativ unrepariert läßt, dringender Rat auszuwandern, um sich greifende Flucht. – Beim Gottesdienst hatte der Rabbiner (am Neujahrsfest, dem freudigen!) tief bedrückt geredet, ein Gebet für die Toten gesprochen, es seien viele Thränen geflossen. – Es waren am Freitag vor 8 Tagen noch eine junge Zahnärztin u. eine Laborantin vom Weißen-Hirsch- * Lahmann 1 anwesend. Die Laborantin, letzte jüdische Angestellte dort oben, erzählte, wie anmaßend protzig dort ob die Nazi = Herren aufträten ( * Kultusminister Rust in Staatsgemächern: In diesem Kitsch soll ich wohnen?!, * Frau Goebbels u. Gefolge ..), wie bescheiden gleichzeitig dort der * Herzog von Cumberland u. Braunschweig, 1 der Mann der Prinzessin * Viktoria Luise, untergebracht sei. –
Die Getreuen u. Tapferen , denn das ist jetzt tapfer: am 23/9 zum Kaffee * Frl Mey bei uns. Sie u. * Lehmann, der Rektoratssekretar, den ich immer protegierte, gehören allein von der ganzen Beamtenschaft der T. H. nicht zur Partei. Am wildesten sei man auf der Kasse. Dort könne einem der Arm gewaltsam aufgehoben werden, wenn man nicht fascistisch grüßt.
B Am 2/X zum Kaffee: * Ursula Winkler u. * Susi Hildebrand, deren krebskranke * Mutter inzwischen gestorben. Eindruck ihres *
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