Klemperer, Viktor
Bertrands. 2 Ein Gefangener in der Zelle schreibt an die Wand: Hoch Lenin. Anstreicher sollen es entfernen, immer wieder schlägt die Schrift durch Hoch L! Etliche Prosastrophen. Dann: Reißt die Mauer ein! befahl der Soldat. – Ganz hübsch; man könnte sich aber den Spaß machen, das Gedicht wörtlich auf die Nazis nach dem Münchener Putsch 1923 zu übertragen. Der Gefangene braucht bloß an die Wand zu schreiben: Heil Hitler. –
Einen Nachm. kam * Frl. Papesch zu uns; tapfer daß sie komt. Ihr Protestantismus entfernt sie vom Régime; aber sie ist natürlich vorsichtig bis zum Äussersten. Ich las ihr die Abschnitte * La Mettrie u. * D Alembert vor.
Auf * Gustis Empfehlung in dem mit guten Schauspielern besetzten Film: Der Himmel auf Erden. 3 Sie hatte ihn, wohl wegen seines oesterreichischen Dialektes überschwänglich gerühmt. Wir fanden den Verwechslungsschwank so gänzlich leer, daß er nicht einmal Gelegenheit gab, gut zu spielen.
Wohl volle zwei Monate, bis zum 9/9 las ich die Bauern von * Reymont vor. Ein grandioses Werk.
Ich habe nie Natur enschild schilderungen von solcher Eindringlichkeit u. Simplicität gelesen. Eigentlich wird, am ganz neutralen u. reizlosen Land, nur das Wetter, nur das Klima beschrieben. Wirklich: der Roman der Jahreszeiten. In den zwei letzten Bänden große Längen u. kein sicherer Schlußpunkt. Großartig aber die animalischen Menschen, der heidnische Katholizismus. Der Pfarrer u. sein Bulle, das Sterben der Agathe (wie in den Chinaromanen der * Buck!), ein Dutzend andere Sachen – – mir fehlt die Zeit, ich bin zu sehr an mein 18. Jh. gefesselt. Wenn ich doch später sagen könnte. So oft ich den Parkberg hinaufschleiche, weiß ich, daß es kein später für mich gibt.
Danach las ich in wenigen Tagen den wie ein historisches Dokument geschriebenen Roman der englischen Südafrikanerin Gottes * S. G. Millin: Gottes Stiefkinder. 1 Der Fluch des Mischblutes: ein halb irrsinniger Missionar heiratet 1824 eine Hottentottin. Das Mischblut durch 4 Generationen, immer, bei aller Verweißung ein Fluch. (Im Lesen dachte ich immer an den Stürmer etc.)
Jetzt habe ich begonnen: * Franz Körmendi: Versuchung in Budapest . 2 Das Buch fesselt uns seit der ersten Zeile. Man hat das alles selbst erlebt, es gibt jetzt wirklich die Leidens = u. Irrsinnseinheit Europa. Kriegsende u. Revolution sahen u. sehen überall gleich aus.
Gestern charakteristische Scene: Verkehrsstockung in der Prager Str. Knäuel von Menschen, Wagen. Ein junger Mensch, blaß, starr, wahnsinnig im Aussehen brüllt immerfort auf einen andern ein, den ich nicht gesehen habe: Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter! .. Ich habe gesagt, wer beim ...[] usw. usw. in infinitum. Alles ist gestört, betroffen, niemand mischt sich ein, Polizei läßt sich nicht sehen, der Verkehr stockt, und der Mann brüllt immerzu: Ich habe gesagt .. ich darf doch sagen: Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter, ein Volksverräter, ich habe gesagt .. ..[] Ich ging nach einer Weile weiter. –
* * Blumenfelds schreiben eine Ansichtskarte von den Bermudas, worin sie über Seekrankheit klagte. In den Geburtstagsbrief an sie – 13. 8. gleichzeitig Tag ihrer Ankunft drüben – wollte ich diese Verse setzen, u. ließ es lieber bleiben:
Danke Gott an allen Tagen,
Der Dich übers Meer getragen
Und erlöst von großen Plagen –
Kleine haben kein Gewicht;
Von der Reling eines freien
Schiffes in die See zu speien,
Ist der Übel größ höchstes nicht.
Hebe dankbar Deine müden
Augen auf zum Kreuz im Süden:
Fort von allem Leid der Jüden
Trug Dich gnadenvoll das Schiff.
Hast Du Sehnsucht nach Europen?
Vor Dir liegt es, in den Tropen –
Denn Europa ist Begriff. (12. 8.)
Ich arbeite u. feile an meinem 18. Jh. wie an keinem andern Buch. Alle Rücksicht ist jetzt fortgefallen – ob es zu lang wird, ob es der Kritik gefällt, ob – es gibt kein von außen dagegen wirkendes Hemmnis mehr, das Buch entsteht ja nur für mich. Manchmal halte ich es für sehr gut u. eigenartig, manchmal für nur zusamengeschrieben.
In den letzten Wochen mußte ich dem einen Arbeiter täglich bereits um ½ 7 öffnen. So gewöhnte ich mir sehr zeitiges Aufstehen an. Von Einkaufs- u. Bibliothekswegen abgesehen, sitze ich den ganzen Tag an der Arbeit – mit Ausnahme der vielen Zeit des Kästchen = u. Kaffee = , Thee[ = ] etc. = Besorgens. – Allereingesponnenstes Leben. Umschlossener, stiller als jemals früher. Wären nicht alle Tage
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