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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Meinung über die Dauer: Fragezeichen. – Am 1/9 (Sonntags) * * Scherners. Er hatte am Montag früh im Ministerium zu tun, sie sagten sich erst Sonnabend Abend an, der Bau war mitten im Gang – wir konnten sie unmöglich aufnehmen. Sie waren unsere Kaffeegäste, am Abend nahmen wir sie, ihre Wurst u. unsern Wein zu * Gusti W. mit, danach verließen wir sie am Bahnhof, wo sie ins Hotel gingen. Herzlich, dick, unverändert – die eigentlichen Beziehungen sind kaum noch vorhanden. Sch. aus seiner reichen Kleinstadtper Apothekerperspektive vollkomen zuversichtlich. Er sagte: das ist wie ein Wald, in dem das Unterholz schon überall schwült, es muß nächstens hochschlagen, spätestens in einem Jahr. Der Stahlhelm lasse sich so kl ruhig auflösen, weil er seiner Sache gewiß sei: Er zeigte einen Aufruf (Rundschreiben) des Falkensteiner Bürgermeisters, worin alle Juden, Judenfreunde, konfessionellen Hetzer, Staatsfeinde u. Gegner der Partei bedroht werden. Das klingt wirklich nach verzweifelter Schwäche. – Ich traf gestern auf der Bank * Gehrig , den man vor mir entlassen hat, u. der mit Rechtsmitteln – dieser Regierung gegenüber mit Rechtsmitteln! – um seine Pension kämpft. Er sagte: Sie sind doch sonst kein Illusionist. Terror hält lange, wir erleben das Ende nicht, Geld kann sich die Regierung immer noch beschaffen. Mein schwacher Trost hierbei: Gehrig war nie ein Geisteslicht. – Wir waren am 10/9 bei * Frau Schaps zum Abendessen u. dort mit ihren * * Kindern Gerstle zusamen. Zuletzt, vor Jahr u. Tag wohl, war uns G. sehr unsympathisch gewesen: ein Opportunist, der auch unter dieser Regierung Geschäfte machen zu können hoffte, auf Beruhigung, beinahe auf Dauer des Zustandes hoffte, wenig Gefühl für die Opfer übrig hatte, obwohl * Sebba ... Jetzt ganz anders. Erbittert, u. erbittert deutsch . Wir trafen uns in dem Satz: In unserm Lager ist Deutschland. Er war dieser Tage, als Offizier, bei seinem Regimentstag. Er hatte vorher den Komandeur gefragt, ob er wirklich komen solle. Antwort: Ja , unbedingt, Aufnahme bei Kameraden, Mannschaft u. aktiven Reichswehroffizieren sehr herzlich . Aber die jungen Reichswehr = Offiziere ein anderer Typ als zu unserer Zeit. Sie fühlen politische Verantwortung u. Rolle, sie sind alle wie eine Sphinx. G s Meinung ganz schwankend. Die Wirtschaft – er hat in seiner Kaffeezusatz-Fabrik 300 Arbeiter – ganz verelendet, die Stimmung erbittert, man meint manchmal, es kann nicht mehr lange so weitergehen. Aber dann wieder: der Terror, die Macht der Regierung, u. wo ist der aktionsfähige Gegner? Die Reichswehr ganz undurchsichtig: * Blomberg 1 u. * Reichenau gelten für * Hitler-treu, * Fritsch 2 nicht. * Gusti W. hatte von einem Auftrag der Reichswehr an einen jüdischen Mützenfabrikanten erzählt, auch von Judenaufnahmen in das Heer. * Gerstle sagte, seine Reisenden stießen auf größte Schwierigkeiten. Häufigste Antwort der Zahlmeister: persönlich würden wir gern bestellen – aber es könnte uns die Stellung kosten, wir wagen es nicht!
    – Wie alt ich geworden bin! Ich erkundigte mich nach * Breit u. meinte natürlich den Vater; G. bezog die Frage ohne Weiteres auf den inzwischen verheirateten * Sohn. Den Alten, mit dem ich zuletzt bei * * Blumenfelds zusamen war, wirft er zu den Toten: ein verbitterter schwer herzkranker Mann. – Letzten Sonntag, 8/9 kam auf ein Plauderstündchen * Frl. Roth, die Bibliothekarin, zu uns und blieb über das Abendbrod. Ihr, der conservativen Pfarrerstochter, komen die Thränen der Wut, wenn sie von dem gegenwärtigen Régime spricht, sie gebraucht ruhig mörderische Worte. Sie sagt, * Mutschmann sei in den gräßlichen Hohenstein-Prozeß 1 verwickelt – Morde im Concentrationslager –, man hoffe, es werde ihm den Hals brechen; Tags darauf wurde M. zum Mitglied er der Akademie für deutsches Recht ernannt. Ihre Meinung, auf ihre Kreise gestützt: nicht mehr sehr lange. –
    * Gusti W, mit der wir in wechselseitigen Besuchen jede Woche zusamen sind, berichtet als Urteil der commun. Partei: noch 6–12 Monate. Das Parteidenken u. = fühlen borniert sie immer mehr. Sie spricht von ihrem * Glauben an Marx; Glauben an * Lenin. Deren Dogmen haben für sie unbedingte Gültigkeit. Sobald sie von diesen Dingen spricht, tritt immer ein phonetisches Zeichen ihres Zustandes auf: ihr r beginnt zu rollen. Neulich las sie ein e aus Dänemark stenographisch hereingeschmuggeltes kleines Poème en prose von * Brecht vor, durchaus in der Art * Al.

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