Klemperer, Viktor

deutsche Sprache, aber in unglaublichster, meist phonetischer Orthographie (wier – fersten = verstehen, ehm = eben, Ewickeit ...) Assoziatives Aneinanderhängen der Sätze, als Interpunktion nur der Punkt bekannt. Penetrantester Katholizismus bei vielem Gefühl. Benko-Engelchen wird im Himmelsparadies für uns Platz machen. –
    Das Glück des Katholizismus! Ich sehe vom Fensterchen aus, wie * Agnes das Geflügel füttert. Die weiße Gans, wohl der Ganter, beisst die Hühner weg, packt die Tauben am Genick, daß ihre Federchen fliegen, haut auch die grauweiße Gans beiseite. Überall in natura 1 das brutale Recht des Stärkeren. Wo hat der Mensch die Idee der Güte her, die bei manchen manchmal sogar wirklich u. aus bloßem, purem Altruismus Altruismus betätigt wird? Banalste u. unlösbare Frage. Führt aber zum tout est possible, même Dieu 2 .
    – Meine Lektüre seit gestern: Stadt Gottes. Illustrierte Zeitschrift für das katholische Volk. Hg. vom Missionshause St Michael in Steyl 3 1893/94. (Zerlesen u. unvollständig)
    Die regelmäßige Monatsschau berichtet vom Reichstag, geht viel auf franz. Politik ein. (Panamaskandal 4 ). Das Centrum verhält sich stark antisemitisch.Für * Ahlwardts Immunität. 5 Gegen die verjudete Lage. Jüdische Finanziers, jüdische Minister im französ. Skandal hervorgehoben. An der Corruption sei die Glaubenslosigkeit schuld. – Langer rühmendster Artikel (durch mehrere Nummern) über * Johannes Janssen , 6 insbesondere über seine Deutsche Geschichte, die die Reformation, vor allem * Luther, in ihrer Gemeinheit entblöße u. mit den Lügen der evangelischen Geschichtsfälscher aufräume. – Frankreich u. der Krieg 1870 spielen große Rolle.
    Nachm. Morgen soll oder sollte das Schwein geschlachtet werden; große Affaire, * Agnes Zutaten halber bis Kamenz, die Kinder schwelgen, * Jurik möchte selber schlachten, * Marka: ich habe dem Schwein gesagt, morgen wirst du geschlachtet! Dann kam Agnes verzweifelt heim, der so mühsam für morgen erlangte Schlächter ist plötzlich zum Militär eingezogen worden! Jetzt läuft sie von Pontius zu Pilatus, einen Ersatzmann zu finden. –
    Ich kome mir vor wie das Schwein. Galgenfrist, mehr nicht, u. die Rettung am 13. wird umsonst gewesen sein. Die Russen scheinen überall zurückgedrängt, in der Ztg soll stehen, daß Ostsachsen außer Gefahr sei. Auch fordere die Ztg alle Dresdener, deren Wohnung erhalten sei, zur Rückkehr auf. Dort also stellt sich die Ordnung wieder wieder her. Ich sehe mich verloren. Ein Ausweg ist uns bisher nicht eingefallen. –
    Kleiner Landstraßengang. Am Wegstein trafen wir eine mehrköpfige Familie, kleinbürgerlich anständige Leute mit kleinem bepackten Handwagen. Sie fragten uns, ob in Piskowitz Unterkomen sei. Sie seien seit 8 Tagen zu Fuß unterwegs. Als Kölner Ausgebombte waren sie nach Muskau gekomen, das sie nun als Flüchtlinge verlassen hatten. Die Russen seien bei Guben 60 km (?!) zurückgeworfen, aber wie lange werde das vorhalten? Man ist am Verzweifeln, sagte der Älteste, wohl der Opa, 66 Jahre alt. Ich tröstete ihn u. dachte, er brauche nicht zu verzweifeln. Aber ich . Ich sah die Hunde der Gestapo den tückischen * Müller, den brutalen * Petri, den hochmütigen Fleischklotz * Köhler körperhaft vor mir u. wünschte mir Veronal. Nur nicht in deren Hände!
    Über Mittag Alarm von Kamenz her.
     

 
    Mittwoch Vorm. 28. II 45 .
     
    Früh sehr lange wach, ehe sich etwas im Hause rührte. Morgengedanken: Das Schwein sollte um 7 geschlachtet werden u. lebt nun doch. Aber im Lauf der Woche wird es daran glauben müssen. Es geht mir wie dem Schwein. Nur es weiß nicht, u. ich weiß. – Aber eigentlich habe ich gar keine Todesangst. Ich denke eher darüber nach, wann es Frühstück geben wird, u. wie ich mir weitere Lektüre verschaffen kann. – Es ist schon ziemlich hell, ehe ich * Agnes schleppenden Schritt höre. Sie geht zum Stall herüber, das Hinterteil der einen Kuh wird vom elektrischen Licht angestrahlt. Neuzeit u. ganz Altes: das Licht im Stall. – Agnes ist in großer Sorge um die beiden Kühe. Am Platz drüben, wo der Gasthof steht u. der steinerne Christus dem Gutsgehöft gegenüber, wo unsere Seitenstr. in die verengte Landstraße mündet, wo man eine Panzersperre begonnen u. nicht weitergeführt hat, wo ich in meiner ersten Beschreibung wohl irrtümlich eine Brücke angenomen habe – drüben in einer Einzäu- nung auf magerstem Gras, steht u. liegt u. brüllt eine Rinderherde;