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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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brennt, seine Kraft versagt, immer wieder ist die Versuchung da aufzugeben. Nur der äußerste Wille hält ihn aufrecht, treibt ihn weiter, vielleicht wird er besinnungslos im Ziel zusamenbrechen, aber er muß es erreichen! .. Wie oft haben Sterbende durch ihren bloßen Lebenswillen den Tod bezwungen! .. Wir sind aufs äußerste belastet, die Terrorangriffe sind kaum mehr erträglich – aber wir müssen durchhalten. Nur ganz wenige minderwertige Subjekte denken anders. Wir werden jedem, der uns sabotiert, mit kalter Ruhe den Strick um den Hals legen. Und nun die alte Leier, die Geschichte verliere ihren Sinn, wenn wir nicht Sieger über die Horden aus Innerasien blieben. Dann als sachlicher Trost: die Gegner seien genauso müde wie wir. Und als Ausblick: wir müßten uns einschränken u. improvisieren u. baldmöglich die deutschen Gebiete zurückerobern. – Alles in allem: diese Marathonläufer-Rede war total verzweifelt u. im Zusamenhang mit dem engl. Bericht, daß der Vormarsch auf Köln sich beschleunigt habe, ließ sich schließlich ein Fünkchen Hoffnung fassen, daß vielleicht doch die nächsten Tage schon eine Änderung bringen könnten.
    Übrigens stand die Rede auch in starkem Contrast zu einem Pronunciamento, 1 das * Hitler vor wenigen Tagen verlesen ließ – ich sah es gestern in der Kamenzer Ztg. –, u. worin er in diesem Jahre die Kriegswende herbeiführen u. die jüdisch-bolschewistische Pest u. ihre englisch-amerikanischen Zuhälter schlagen will. An fanatisch u. Fanatismus fehlt es weder bei Hitler noch bei Goebbels, u. * Goebbels läßt nach altem Mythos von der Hunnenschlacht 2 die Toten in den Lüften weiterkämpfen u. will selber lieber sterben als die Niederlage erleben. – Soll er doch! rief * Maria Scholze, die überhaupt die Rede immer wieder mit leidenschaftlichen Zwischenrufen unterbrach.
    Ich bat dann * Rothe noch um etwas Lektüre. Er brachte an: * Zöberlein Der Glaube an Deutschland , ein dicker Band, Stempel * Benno Rothe, der Vater sagte, er lese gern darin, weil er viele dort beschriebene Kämpfe mitgemacht habe; * Kellermann: Der Tunnel , wohl von Soldaten eingeschleppt, dann ein Buch über die Luftwaffe in diesem Krieg u. noch irgendein Roman. Ich nahm den Zöberlein u. den Kellermann mit. – Zum Zöberlein, den ich einmal von * Stephan Müller nennen hörte u. eben von * Hitler bevorwortet sehe, dazu paßt es, daß Rothe zum Kyffhäuser-(Reichskrieger)-Bund 3 gehört hat, wovon einige Exemplare hier herumfahren. Das katholische Wendentum hat also nicht an deutsch-nationalem Empfinden gehindert – aber vom Nat.-Soz. hält es fern. – –
    Im Weltkrieg sagte mir * Scherner einmal zu meinem grenzenlosen Erstaunen (u wenn ich mich nicht irre, habe ich eine ähnliche Bemerkung von dem fromen Fels * Müller 4 in Driburg gehört): Soll * Voltaire nicht einen sehr bösen Tod gehabt haben? Jetzt fand ich in der Stadt Gottes, 1894, No 15: Wie ein Gottesleugner lebte u. starb von J. F. Darin wird Voltaire nur als bösartigster Gottesleugner geschildert, u. dann heißt es von seinem Sterben: Bald rief er in der größten Gewissensangst Jesum Christum an, bald brach er in die schrecklichsten Gotteslästerungen aus ... In einem schrecklichen Anfall von Raserei u. Verzweiflung gab der unglückliche Philosoph am 30 Mai 1778 seinen Geist auf Es werde auch berichtet, daß der Rasende kurz vor seinem Tode unter gräulichen Gotteslästerungen u. Flüchen sich in den Arm gebissen u. wie der abtrünnige * Kaiser Julian 1 gestorben sei. Schließlich werden dann Verse berichtet, die ein deutscher Dichter[] schrieb: Wenn ‹starke Geister› also sterben müssen, / Wie Voltaire jüngst gestorben ist; / Wenn sich ein solcher Mensch mit tollen Bissen / Das Fleisch aus seinen Armen frißt, / Wenn er wie Voltaire heult u. brüllt u. wütet ...... .. / Wenn ‹starke Geister› also sterben müssen, / O so bestrafe man sie nie! / Ihr Tod, nachdem sie in der Hölle büßen, / Ist Schand u. Pein genug für sie. // Wenn so etwas im gebildeten Deutschland 1894 noch gedruckt werden, 1916, u. wahrscheinlich auch heute noch, wirken konnte u. kann – was hat es da mit dem Fortschritt der Welt auf sich, u. wieso ist es verwunderlich, wenn Millionen auf die * Hitlerdogmen schwören?
     

 
    Freitag Nachm 2. März 45 .
     
    Seit gestern Nachm immerfort Sturm , der oft das Haus erschüttert. Wiederholt Alarm – mindestens Mittags u. Abends üblich –, wiederholt starke Fliegergeräusche, bald offenbar deutsche

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