Klemperer, Viktor
noch nicht: * Kurt Gerlach: Die Straße nach Prag . 6 Ich blättere weiter im * Schiller- * Roman . Vielleicht habe ich ihn doch zu früh aufgegeben; im dritten Teil, nach dem Abebben der Geniezeit, scheint er genießbarer zu werden.
* E. schläft, sehr erschöpft u. erschreckend mager auf ihrem Lager aus Mullpapierballen u. Wattecartons. Draußen häßliches regnerisches Wetter. Es muß gegen 18 h sein. Ich athme auf, wenn ein Tag überwunden ist. Im geschlossenen Privatcontor ist immer ein Gefühl von Geborgenheit. Freilich muß erst der unausbleibliche Abendalarm überstanden sein. Es sieht nicht so aus, als sollte Falkenstein verschont werden.
19 30 Zwei Berichtigungen, wie ich sie eben von * Scherner, dem ganz abgekämpften, höre: 1) der geschwätzige Veterinär, diese Volks-, voire populace = Seele, 1 ist ein Dr. med. vet. * Honigmann, der angesehenste, beste, tüchtigste, wohlhabendste Tierarzt des ganzen Kreises, in Auerbach ansässig. Dazu ein gefährlicher Nazi, Du mußt sehr vorsichtig mit ihm sein. Sch. war verwundert über mein ganz absprechendes Urteil, der Mann sei doch so tüchtig, u. einen Spleen habe eben jeder. 2) Der Dr. * Keßler mit dem famosen Stammbaum ist nicht Arzt, sondern Studienrat + Altphilologe u. Historiker, mit seinen Schulkindern ein Jahr lang nach Falkenstein geschickt, wo ihn Sch. kennen u. als superlativischen Idealisten lieben lernte, jetzt in sein heimatliches Bremen zurückbeordert. Durchaus Antinazist – wir haben uns oft darüber ausgesprochen – aber offiziell natürlich als Staatsbeamter ... Sch. gebrauchte dasselbe Argument wie ich einmal * Johannes Köhler gegenüber: wenn er gehe, trete ein Schlechterer an seine Stelle. Aber was im Anfang des Nazismus galt, gilt es noch heute? Und dann: wieso ist der Mann auch dem Freund gegenüber, u. wo er ja nicht gezwungen ist davon zu reden, für Durchhalten? Weiß er nicht, was er unterstützt? Sch. sagt, nein, er weiß nicht, ein Philologe weiß nichts vom Leben! Sch. ist mit Entschuldigung für jeden zur Hand.
Sonntag 18. III 45
Gegen 7 h. unten . Kleine Morgenbetrachtung aus großer Liebe entstanden. Eigentlich ist doch die Hauptsache, daß wir uns 40 Jahre so liebten u. lieben, eigentlich ist mir doch nicht so ganz gewiß, daß dies alles ein Ende haben soll. Gewiß ist das Nichts – en tant que 2 persönliches Bewußtsein, u. also das tatsächliche Nichts – überaus wahrscheinlich, u. alles andere höchst unwahrscheinlich. Aber erleben wir nicht immerfort, seit 1914 u. nun gar seit 1933 und in dieser letzten Zeit immer gehäufter, das Allerunwahrscheinlichste, grausig Phantastischste, ist uns nicht das vordem absolut Unvorstellbare zur Selbstverständlichkeit u. Alltäglichkeit geworden? Wenn ich die Verfolgungen in Dresden, wenn ich den 13. Februar, wenn ich diese Flüchtlingswochen erlebt habe – warum soll ich nicht ebensogut erleben (oder eben: ersterben), daß wir, * E. u. ich, irgendwo uns mit Engelsflügeln oder in sonst einer schnurrigen Form wiederfinden? Nicht nur das Wort unmöglich ist außer Kurs geraten, auch unvorstellbar hat keine Gültigkeit mehr. – –
Der gestrige Fahrplanmäßige ging milde ab. Zwar gleich wieder Vollalarm , aber ohne alle Geräusche u. nur eine halbe Stunde: von 21 45 –22 15 .
Die Apotheke hat dieses Week-End über vollen Dienst, Sonnabend Nachm., Nachtdienst u. Sonntagsdienst. Den Nachtdienst versieht jetzt das Frl * Dumbies, die Ostpreußin. Sie ist völlige Defaitistin – wenn die Russen wollen, brechen sie ja doch durch! – sie hat die ständige Todesangst übersatt, ich bin aus ihrer ganzen Haltung u. Sprechart, aus ihren Einzelbemerkungen – Tirol scheint noch weniger angegriffen, ich warte nicht auf Räumungsbefehl, ich gehe sobald möglich nach Tirol – durchaus überzeugt, daß sie nur ihr Leben retten, nur ein Ende des Wahnsinns haben möchte, ganz gleich ob als künftige Russin, Polin oder sonst etwas; aber mit keiner Silbe spricht sie deutlich aus, daß sie den Krieg für verloren, die Fortsetzung für Verbrechen hält. Die Angst dominiert. Der Krieg wird weitergehen, bis alles bis wir vernichtet ist, bis wir alle vernichtet sind. Das kann man zur Not noch nationalsocialistisch, als Bekenntnis zum Durchhalten auslegen, u. mehr zu sagen getraut sich die Dumbies nicht, u. es gibt Abermillionen Dumbiese. Natürlich gehöre ich selber zu ihnen, habe aber vor mir die Entschuldigung, daß ich als Geächteter ... usw.
Ich habe immer Angst, gegen das
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