Klemperer, Viktor

eben sahen wir wieder einen großen Treck. (Seit wann das Burenwort im neuen Gebrauch??) Wo kommen all die kleinen uraltmodischen Kutschen her, die an den Planwagen hängen? Auffallend war diesmal die große Zahl der neben u. hinter den Wagen wandernden Männer, Frauen, Kinder, auch Kriegsgefangenen. Auffallend die Zahl der mitgeführten oder langsamen Tempos benutzten oder an den Seiten der Wagen hängenden Fahrräder. Es werden auch Kinderwagen u. kleine Wägelchen hinterher geschoben; viele gehen, indem sie sich an den Wagen festhalten. Bespannung zwei, drei, vier Pferde, Rinderpaare, Pferd u. Ochs nebeneinander. Angehängte Töpfe. Statt der Planen oder als Teilstücke zwischen ihnen Decken u. Teppichstücke. Strohschütten in den Wagen, die Plandächer selten rund, meist Archenmäßig gespannt. Ein Bild des Mittelalters. In solchen alten Zug eingebunden habe ich aber auch schon ein benzinloses Automobil gesehen. – Offenbar wandern die Leute tagüber mehr, als daß sie im Wagen sitzen. Nachts dann irgendwo einquartiert. – –
    Das ferne Geschützfeuer heute Nacht kam – consensum omnium, 1 Bestätigung durch Rundfunk u. frühere Erfahrungen – aus Nürnberg, das in der Luftlinie doch immerhin einige 100 km entfernt liegen muß. (Wir sahen die Karte im Falkensteiner Anzeiger-Haus am Rathausplatz: etwa 150 km.)
    16 h. Wir hatten den bisher schwersten Falkensteiner Alarm, gleich Vollalarm, reichliche 2 ½ Stunden dauernd, von 11–nach 13 ½, mit immer erneutem Surren von passierender Verbände, mit bedrohlichen Tiefflügen, mit schweren nicht allzu fernen schütternden Einschlägen. Es war eine dauernde Nervenspannung. Wir – ein halbes Dutzend Apothekermädel u. wir[,] dazu irgendein Veterinär u. Parteibeamter, [der] gerade gekomen war u. nach dem abwesenden Scherner fragte, standen in der Nähe der Flurtür, auf der Treppe hörte man Hausinsassen, dem Keller wird nicht getraut. Von draußen kamen ein paar Rundfunk Radiomeldungen, wonach Verbände über ganz Sachsen hausten, auch über Thüringen u. sonstigem Mitteldeutschland, überall. Die Einschläge sollen Plauen getroffen haben. Der * Veterinär, mit allen Mädchen bekannt, war ein geschwätziger Mann mit Zehntelbildung, hielt sich für einen Weisen, prahlte prahlte mit seiner Furchtlosigkeit, war all die Zeit über keine Sekunde still u. gab zwischen vielem baren Unsinn allerhand Interessantes von sich. Er war reiner Fatalist, er war fest überzeugt, daß er u. sein Haus verschont bleiben würden. Er war Philosoph: es sind schon so große Kulturen vernichtet worden, die römische, die indische – vielleicht würde jetzt die europäische Kultur vernichtet, um einer ganz neuen Platz zu machen. Aber er war auch ganz überzeugt, daß in spätestens vier Wochen, vielleicht schon Ende März, er warte jeden Tag darauf, die Wende des Krieges kome. Unsere neuen Waffen. Eine kenne er ganz genau, er kenne einen dafür ausgebildeten Flieger: ein Einmann-Flugzeug mit 2 000 km. Geschwindigkeit, das mitten in das Feindgeschwader stoße u. es zerschlage, das nur seitlich schießen könne, denn nach vornhin ist es schneller als die abgeschossene Granate .. Und dann, das ist schon häufig aufgefallen: in ganz zerstörten Häusern Berlins hängen * Hitlerbilder unversehrt an erhaltenen Wänden, man sieht unglaublich viel Hitlerbilder. (So hieß es in Piskowitz, irgendwo sei inmitten absoluter Zerstörung eine Kirche erhalten geblieben, u. E. sagt, in Messina habe man ein unversehrtes Marienbild gezeigt. Semper idem; Heiligenlegende auf den Führer übertragen) .. Man muß sein Schicksal hinnehmen, der Keller ist auch kein guter Ort. In Plauen hat es die Gestapo erwischt: sechs waren gleich tot, der siebente, im Keller, war eingequetscht, man konnte ihn nicht freimachen, er hat noch anderthalb Tage gelebt. (Ich zu * E.: Endlich mal eine sympathische Bombe. E. zu mir: Anderthalb Tage – das ist schon ganz hübsch. Man kann sich nicht genug tun an Rachegedanken; sie wird ja niemals, niemals groß genug sein) .. Apotheken werden häufig getroffen, die dort aufgespeicherten Gifte scheinen die Bomben anzuziehen .. Aber man muß Fatalist sein ...[] So ratschte er all die Zeit über. Seine Zuhörerinnen stammen aus allen Teilen Deutschlands. Die Approbierte * Rüdiger ist Sächsin, hat die Eltern in Zwickau, die andere Vollapothekerin (noch ohne zweites Staatsexamen) klein, vierschrötig, sympathisch, Frl. * Dumpies, ist in Memel zuhaus u. hat die ausgebombten Eltern in