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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Auerbach – sie scheint wenig nazistisch u. wenig sieggläubig, erzählte uns neulich, man sage die Russen von deutschen Generalen geführt –, eine Helferin klagt um ihr Elternhaus in Köln, gerade in der Straße, durch die die Amerikaner eindrangen, es muß zerstört sein ...[]
    Als wir vom späten Essen zurückgingen, lag Stan[n]iol auf dem Rathausplatz. Stan[n]iol überall, gestern auch auf dem Friedhof; aber dieser Streifen hier war frisch abgeworfen, denn den Rathausplatz fegt man. – Der * Veterinär ist ein geschwätziger Idiot – aber der Doctor * Keßler ? * Sch. ließ sich morgens in unserm Beisein den Brief dieses Mannes von der * Uhlmann vorlesen. Er sagte, ein Arzt, mit dem er seit vielen Jahren befreundet sei, ein Nachkome (nachweisbare Blutsverwandtschaft) von * Goethe u. * Leibniz[], jetzt in Bremen im Dienst .. Der Mann bat um allerlei Medikamente, hinzufügend, er wisse natürlich, daß nicht alles zu haben sein werde, dabei nannte er die simpelsten u. notwendigsten Dinge; er schilderte die Zustände in Bremen, 3mal täglich Alarm u. immer im überfüllten stickigen Keller. Er wurde philosophisch u. gebildet: man müsse sein Schicksal hinnehmen u. ins Ewige tauchen, er für sein Teil halte es aber nicht für ausgeschlossen, daß ‹geprägte Form, die lebend sich entwickelt› 1 ihr Ich-Bewußtsein bewahre, daß Ich-Bewußtsein sei doch eigentlich das einzig u. primär Gewisse. Und er schrieb zur Lage: er hege immer noch einen Rest von Hoffnung für Deutschland, obwohl das verstandesmäßig kaum zu begründen sei. Und natürlich müsse man durchhalten . Ich fragte u. frage mich, wie das möglich ist, daß ein denkender Mensch, der nicht blind sein kann, der als Arzt um das Verbrechen, die Gräßlichkeit dieses Régimes wissen muß , ihm dennoch die Treue hält. Wie es möglich ist, daß ein gebildeter Mensch, der die absolute Sinnlosigkeit des weiteren Kämpfens einsehen muß u. ganz offenbar auch einsieht, für die Fortsetzung der unsinnigen Schlächterei eintritt. – Aber es ist so: die Gebildeten u. die Idealisten sind wie dieser * Doctor K. für das Durchhalten, u. die Masse glaubt zu einem ungeheuren Teil wie der verrückte * Veterinär an die nahe Wende, an die neuen Waffen, an die wunderbar beschützten Bilder des Heilands * Hitler. –
    Als wir morgens in das Nachtdienstzimmer hinaufgingen, empfing * Sch. gerade seine neue Lehrlingin. Ein blutjunges Ding, sie muß ein Kind gewesen sein, als der Krieg ausbrach. Was kann sie da von dem Namen Kl. wissen? Die * * Bankleute waren schon außer Landes, ich selbst wurde 1935 mattgesetzt. Ein * Frl. Otto, ihr * Vater, sagte Sch., sei von Beruf Gartenbaudirector; da braucht er auch nicht gerade mit dem Namen Kl. vertraut zu sein. Immerhin müssen wir abwarten, was Sch. meint u. beschließt – er ist ja kaum sehr viel weniger gefährdet als ich –, bei dem ungeheuren Betrieb unten (heute u. Sonntag ist die Apotheke geöffnet) bekomen wir ihn kaum zu Gesicht. –
    Zwei ganz disparate Notizen, denen ich zufällig in den ganz unregelmäßig u. lückenhaft hergelangenden Leipziger NN – ein Blatt, zwei, nicht vier Seiten – begegnete. 1) Vor ein paar Tagen: mit sofortiger Wirkung sei in den Restaurants das Stamgericht abgeschafft, nichts dürfe mehr markenfrei abgegeben werden. Ich brauche nicht auszuführen, wie bedeutsam das für die Allgemeinheit ist, wieviel Millionen Hungerriemen es enger schnallt. 2) heute, wichtig für LTI: von dem vor zwei Jahren zu früh verstorbenen Literarhistoriker * Walter Linden 2 erscheine bei Reclam in 3. Aufl. die erste deutsche Literaturgeschichte, die den Gesamtablauf unter natsoc. Aspekt betrachte. Diesen Bd. muß ich sehen. Linden war ein Schulmann, fraglos viel jünger als ich, der bei Teubner die Zeitschrift für Deutschkunde herausgab. Darin habe ich in den zwanziger Jahren eine sehr große * Morgensternstudie 3 veröffentlicht u. irgendeinen Aufsatz oder Vortrag, der vom französischen Deutschlandbild (oder so etwas Ähnlichem, Kulturkundlichem) handelte. 4 Das war alles zusamengestellt für meinen 3. Aufsatzband, aber diese zusamengestellten Hefte sind im Schreibtisch verbrannt. Linden, den ich nur durch Correspondenz kannte – woher weiß ich eigentlich, daß er jung war? –, machte mir den Eindruck eines honnête home. 5 Immer die gleiche Frage: wie konnte er Natsoc. werden, u., schlimmer, unverzeihlicher: wie konnte er es bleiben?
    Ich lese vor, sehr mühsam, aber doch langsam wärmer werdend, warm

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