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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Phantastische der Situation abzustumpfen. Diese Morgentoilette im Apothekenlabor! Der Destillierofen, die Riesenflaschen u. -gefäße, die Unzahl kleiner zum Ausspülen auf ein Brett gehäufter Fläschchen, das Durcheinander einer mittelalterlichen, einer Faust-Dekoration u. moderner Gas- u. Elektroanlagen mit x Knöpfen, Drähten, Rohren, Schläuchen. Und dazwischen, mir den Kopf stoßend, mich bespritzend, wasche u. zähneputze ich mich – wann kome ich wiedermal zu völliger Körperreinigung? (In den jetzt 31 Tagen unserer Flucht ist es bisher zweimal – halbwege – geglückt.)
    Die Not der Einzelgewerbe: auf * Sch s Schreibtisch liegt die Postkarte einer Zwickauer Mineralwasser-Handlung vom 15/III 45. .. Bad Wildungen ist nicht in der Lage zu liefern. Wir nehmen Biliner als Ersatz. Bilin erhält aber nur Waggons zur Verfügung gestellt, wenn ich von Lazaretten, Krankenhäusern, Apotheken usw. Dringlichkeitsbescheinigungen einsende. Sch. möge also beiliegendes Formular unterschreiben Mischung aus Not u. gehäuftem organisatorischem Formelkram. Apothekernot ist eine unter unzähligen Nöten . Sch s Apotheke strotzt noch von Waaren. Auch der kleineren (versoffenen) Löwenapotheke an der Kirche ist bisher nichts zugestoßen. Aber wieviele Apotheken (u. chem. Fabriken) mit all ihren Beständen sind vernichtet! Eine Not unter unzähligen. Aber der Krieg geht rätselhaft weiter. – Scherner erbitterte sich gestern über ein zerbrochenes Meßglas. Unersetzbar! Die dummen Weiber! Er hat, den * Hausdiener ausgenomen, nur weibliches Personal. Er erbitterte sich auch über die Unwissenheit seiner * Lehrlingin, die schon ein praktisches Jahr in Dresden hinter sich hat. –
    Von Apothekerei hörte ich in den letzten Jahren häufig sprechen: * Feder ist (oder war?) Apothekerssohn 1 u. selber Apotheker, das verschaffte ihm bei * Bauer, dem Flaschen- u. Dosenlieferanten, seinen beneideten Druckposten. Bei Feder fällt mir wieder einmal die Gemeinheit meines Herzens auf die Seele. Er hat mir nie Böses, wiederholt Freundlichkeit erwiesen. Aber er war mir tief unsympathisch: durch die Engstirnigkeit seiner * Frau, durch den eigenen Antisemitismus, durch seine Mischung aus Pedanterie u. Praepotenz. Wenn ich nun an die Bewohner der Sporergasse denke: ist es mir ein quälendes Gefühl, daß Feder dort wahrscheinlich begraben liegt? Oder wäre es mir nicht eine Art Erleichterung, im Fall des eigenen Überlebens u. Weiterlebens in Dresden später zu denken: Mit F. brauche ich nicht mehr zusamenzukomen, und hurrah, ich lebe, mich hat die Vorsehung bewahrt? Wäre das nicht geradezu Würze des Triumphs? Und muß ich nicht ähnliche Betrachtungen anstellen im Punkte * Kätchen Voß? – –
    Bei all meinem Schreiben sehe ich das abgehackte * Münchhausenroß vor mir, das vorn säuft, u. hinten, das Hinterteil fehlt, stürzt alles wieder heraus. Mein wahrscheinlich schon jetzt, bestimt morgen od. übermorgen fehlendes Hinterteil befindet sich in Pirna. Das 18ième, 2 wenn es sein müßte, wollte ich opfern; aber das Cur. 3 u. die LTI! – Trotzdem schreib ich immer weiter. –
    Gegen den Verlust ihrer Angehörigen, ihres Besitzes sind die Leute abgestumpft; oder auch: dem allen hält die Angst vor dem Gehenktwerden u. Erschossenwerden die Wa[a]ge. Aber der Hunger wird es bringen. Ich merke jetzt am eigenen Leibe, wie sehr er wehtut. Komt nicht von außen das Ende, dann muß es in Bälde durch den Hunger komen. Ich kenne bisher 3 Phasen des Hungergefühls: 1) das ständige Nichtsattsein, 2) das buchstäbliche u. konkrete Bohren, meist so um Mittag herum, als wenn sich ein dünner Bohrer ohne stechenden Schmerz, mehr dumpf allmählich tiefer in den Magen schöbe, 3) die erste Minute nach Tisch, die Qual des Aufhörenmüssens. Dies dritte ist das Schlimmste. Sexualvergleiche liege naher, treffen aber nicht zu. Hunger ist schlimmer als Sexualnot. Gegen sie gibt es bewußte u. unbewußte (Pollutions-) Selbst = Abhilfe. Gegen Hunger nicht. Halbbefriedigter Sexualreiz ist immerhin Genuß an sich; halbbefriedigter Hunger hinterläßt bloß Qual. Sexualnot wirkt anfallweise, Hunger dauernd. Der Hunger u. die Liebe – da steht Hunger primo loco. Wir streiten oft, ob die Nahrungslage im vorigen oder in diesem Kriege schlechter war. Jetzt , in diesen letzten Wochen u. von nun an zwangsläufig steigend, ist sie fraglos sehr viel schlechter als 1917/18.
    13 15 h Während der Mittagstortur bei Meyer, etwa 12 10 –13 kleiner Alarm . Mir fiel die neue

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