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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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sprach baltisches Deutsch, das Paar untereinander etwas Fremdes – est[ h ]nisch.
     

 
    Sonnabend morgen 17. März 45 Falkenstein
     
    7 h. Privatcontor. Der Vollalarm dauerte gestern genau eine Stunde Stunde; sehr fernes Schießen oder Bombenfallen, hier das böse Summen nur einmal. Immerhin, man steht meist im Mantel an der Flurtür, fluchtbereit. Dabei hatte ich das Gefühl, es wäre noch gar nicht so schlimm, wenn jetzt die Marienapotheke zum Teufel ginge – oder Rodewisch .. Bald nach zehn waren wir im Bett, es tat bitter not. Schlaflosigkeit kennen wir merkwürdigerweise beide nicht. –
    – – Daß es sich um Est[ h ]ländische Heimgekehrte handelte, erzählte die Wirtin. Sie klagte über die Lage u. ihre Unübersehbarkeit, sie schien vom Endsieg nicht mehr allzufest überzeugt, aber: Ostpreußen soll doch zurückerobert werden, sagen sie. Es klang freilich nicht sehr zuversichtlich. Und bei einer Straßenrast, * E. rauchte an der Mauer eines Schuppengrundstücks sitzend, begann ein alter Mann: Da habe er nun einen Ctr. Pappe beisammen, u. das teure Zeug verkomme, weil er keine Bretter zum Abdecken erhalte. Nichts sei mehr da – aber wir siegen, es steht ja in der Zeitung, u. Ztg. u. Radio sagen die Wahrheit ... Flüchtlinge, Sie? Diejagt heraus, so (Bewegung u. Tonnachahmung des Maschinengewehrs). Wir antworteten durchaus ausweichend u. gingen weiter – es konnte ja ein Spitzel sein. Auf solche Äußerungen, die ich nun schon seit Jahren höre, gebe ich nichts mehr. Hunderttausende glauben noch, u. Millionen haben Angst, u. alle fühlen sich stumpf u. wehrlos – Das Radio in Augustusruh war in Unordnung, über den Heeresbericht wieder weder hier noch in der Apotheke etwas zu erfahren ...
    Der Rückweg brachte den eigentlichen geographischen Zuwachs. Wir stiegen in die Ortsteile des östlichen Tals hinunter. Es ergab sich, daß Ellefeld kein schmales Dorf ist, sondern eine ausgedehnte Stadt, wahrscheinlich nicht viel kleiner als Falkenstein, das selber nun freilich an Größe gewann. Was ist Ellefeld, was Falkenstein? Und ebenso kann man gewiß nach Norden zu fragen: was Auerbach, was Ellefeld? Irgendwo steht eine trennende Ortstafel, willkürlich hineingesetzt. Das Ganze erinnert im Aufbau an den Ellefelder Friedhof. Terrassen mit bebauten u. unbebauten Feldern. Man steigt eine Stufe herunter, erreicht eine geschlossene Längsstraße, glaubt im Hauptbezirk des Ortes oder Ortsteils zu sein. Neue Stufe, neue Längsstraße. Dazwischen Einzelbauten oder auch freies Garten- u. Feld- u. Wiesenterrain. Man ist ganz unten, da fährt auf breiter Straße der Autobus – er fährt merkwürdig oft, mit Anhänger, stark gefüllt (Rodewisch–Auerbach–Falkenstein), er ist ganz fliegerbunt bemalt, blätterartige Tupfer in grün u. graugrün flimmernd – da fließt ein industriell reguliertes stark strömendes Wasser, u. jenseits geht es noch eine Stufe wieder hügelan, u. dann greifen einzelne Straßenzeilen vertikal zu diesen Längslinien lang u. steil die kahle Höhe zum Waldrand hinauf. (Und im Norden hoch über Auerbach, auf freier Kuppe zwischen Wald u. Wald sieht man größere Ortschaften, u. im Süden liegt über uns der dichte Stadtkern von Falkenstein mit dem spitzen Kirchturm u. dem runden überhelmten Rathausturm. Das engbesiedelte Sachsen, das hungernde Zuschußland trotz der Äcker, die sich zwischen alledem dehnen. Die Häuser fast durchweg städtisch, viel Backsteinbauten, ziemlich viel moderne Villen. Wenig eigentliche Fabrikbauten mit langen Schornsteinen, aber sehr viele Häuser, in denen es fraglos Arbeitsstuben u. -säle u. kleinere Maschinen gibt. Immer wieder die Firmenschilder: Gardinenfabrik, Wäschefabrik, Schürzenfabrik etc. etc. Textilherstellung in einem Mittelzustand zwischen Heimarbeit, Handarbeit u. Großproduktion: Kleinbürgertum der Industrie. Ich sagte mir immer wieder: dieser ganze Bezirk Auerbach-Falkenstein (zusamen gewiß eine reichlich mittelgroße Stadt von etwa 50 000 Einwohnern) ist noch unangetastet. Und in all den kleinen Fabriken macht man heute bestimmt keine Wäsche, sondern irgendein Kriegsmaterial. Rückschluß 1: Wie lange noch bleibt der Bezirk ohne Bombenangriff? Rückschluß 2: Es gibt eine Legion solcher noch arbeitender noch lebender kleinerer Städte. Wie lange noch also braucht der Gegner, bis er wirklich alles lahm gelegt hat? Freilich: immer mehr Flüchtlinge stopfen sich hier dazwischen, u. die Nahrungsnot wächst täglich. – –
    9 h oben Jetzt

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