Klemperer, Viktor
Konkretisierung einer abgelatschten poetischen Wendung ein: er hörte die Fittiche des Todes über sich rauschen. Man hörte sie wirklich als rauschende Todesfittiche, die tieffliegenden Verbände. –
Auf dem Rückweg trafen wir * Trude Scherner, die gerade aus ihrer Privatwohnung kam. (Sehr peinlich, der ganz aussetzende Privatcontakt.) * Norma D., die wir noch nicht zu Gesicht bekommen, u. die mit ihren 3 Kindern Sch s Einquartierung bleibt, hat seit gestern ihren Mann hier, der heute Abend fortmuß. Balte. Trude Sch. erzählt von ihm. Er sagt: das Heer hat noch reichlich zu essen, das Civil wird noch mehr als jetzt hungern müssen. Der Krieg dauert noch lange (ich fragte: wie lange? Antwort: ein halbes Jahr!), u. Deutschland siegt. * Der Mann ist Oberstabsarzt. Offizier an der Krippe. So war es 1918 auch. Ich bin nicht überzeugt, daß auch das gesamte Heer, ich meine die Mannschaft, reichlich zu essen hat u. in einem halben Jahr zu siegen gedenkt. Ich weiß vom vielen Desertieren, weiß, daß die Flieger Tag u. Nacht Zerstörung bringen, daß am Rhein u. an der Oder Schritt um Schritt zurückgegangen wird. Ich rechne nach wie vor mit baldigem Zusamenbruch. Und doch bringt mich solch ein Urteil wie das Dettkes zur Verzweiflung. –
Wir wollen bei bedecktem aber erträglichem Wetter eine kleine Wanderung wagen.
18 h Der schönste Weg, den wir bisher hier gemacht. Diesmal ganz südlich – Neustadt liegt im SW. – nach Grünbach . Ständig – bis zu etwa 700 m. ansteigende Landstraße. Die Aussicht nach W. ist immer von leichter Erhebung versperrt, nach O. u. S. aber sieht man über Talsenkung auf drei, vier hintereinander ansteigende Waldberglinien in verschiedenen Farben u. Tönungen, hellgrün, schwarzgrün, ferneblau, grauvernebelt mit aufsteigenden Nebel- oder Wolkenfetzen. Rückwärts nach Norden geht der Blick über weite, breite Hochfläche auf abschließende querriegelnde Bergzüge. Ein-, zweimal lagen hintereinander Falkenstein u. Auerbach mit ihren charakteristischen Türmen deutlich sichtbar. Die seltsame Gemeinde Grünbach beginnt in 2 km Entfernung von Falkenstein, besteht von ganz wenigen Ausweitungen zu einem Häuserhaufen [abgesehen] aus nur einer Straße, eben der beiderseits bebauten Landstraße, aber diese Straße zieht sich geschlagene drei Km. hin. Und sie ist durchaus städtisch. Kein Vierteldutzend Dorfhäuser – was mag es für ein Dorf gewesen sein? Acker ist nicht zu sehen, nur Wiesenabhang vorm Walde? – alles andere ist ständi städtisch u. industriell. Fabrikgebäude, meist kleinere Betriebe, alle textilisch: Stickereien, Webereien, Firma um Firma, wechseln mit steinernen Wohnhäusern u. modernen Villen. Ein großes Schulgebäude, ein Postamt, ein eigener Arzt. Den letzten der drei Km. senkt sich die Straße wieder tief herab u. in den Wald hinein. Unmittelbar vor dem Walde liegt der Bahnhof. Dort standen wir im tiefen Schnee vor dem ladenden oder rangierenden Güterzug, als wir von Falkenau herfuhren. Wir wollten noch über den Bahnhof hinaus durch den Wald bis zur Thalsohle vordringen, um dann die Talstraße zurückzuwandern; aber wir kamen nicht weit, weil auf der Waldstraße halbgetauter Schnee lag. Die obere Landstraße ist so schön, daß sie auch den Rückweg lohnte. Grünbach hat an jedem Ortsende ein großes Gasthaus; wir saßen in beiden; im ersten, Falkenstein nahen um 3 Uhr; da tranken wir Kaffee u. hörten den Heeresbericht: ein trostloses Aufderstellemarschieren. Im zweiten, nahe am Bahnhof, tranken wir auf dem Rückweg ein Weezenbier, das soll ja auch ein bisschen den Hunger stillen. – Überall auf dem Weg, der Landstraße, der Straße durchs Dorf, im Walde, überall liegt Stan[n]iol. Die Radiomusik wird unterbrochen: Achtung! Luftlagemeldung: Einflug eines Kampfverbandes in Westdeutschland. Über ganz Deutschland liegt Stan[n]iol, über ganz Deutschland regnet es Tag u. Nacht Zerstörung – aber der Krieg geht weiter. – – Den ganzen Weg erwogen wir weitere Fluchtpläne; es scheint uns beiden nicht gut, kaum angängig, hier noch lange zu bleiben. * * Sch s halten sich ängstlich fern von uns. Wir sind gefährdet u. gefährden sie. Aber die weitere Flucht Flucht wird ein Sturz ins absolut Ungewisse, ins Nichts.
Wir wollen heute zur Streckung des Brodes im Café Meyer nachtmahlen, jedes Dorthingehen, Dortsitzen kostet mich Überwindung – was hilft es?
Montag 19. III 45 Falkenstein
Nach 7 h, unten . Die Engländer waren unordentlich, sie
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