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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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blieben gestern Abende aus, dafür kam der Alarm nachts drei Uhr. Nur 20 Minuten u. klein, aber störend, denn wir standen auf. * E. sagte gebranntes Kind .. Auch wieder so ein lebendig u. concret gewordenes Cliché.
    Der üppige Sonntag gestern: 4 x im Restaurant u. üppig genährt, denn wir gingen Abends wirklich noch ins Café Meyer – es war gedrängt u. kleinstadtvoll von jungen Leuten, die ihr Bier u. ihren Kaffee tranken, nicht auf das Radio hörten (Musik, Gesang, schneller Kampfverband in NW-Deutschland u. wieder Musik) u. sich miteinander amüsierten – bekamen eine Suppe u. Kartoffelsalat u. schwelgten trotz alledem zuhause – zuhause! – noch einmal in Kaffee u. Brod. (Es reicht sowieso nicht, erklärt E.). Und immerfort bei allem die Last auf dem Herzen. Wir citierten beide: wo sein Haupt hinlegen? Wieder ein lebendig Gewordenes. – –
    Das Buch * Kurt Gerlach: Die Straße nach Prag. Verlag E. Matthes Matthes, Hartenstein – Sachsen , 567 enge Seiten, kein Erscheinungsdatum, von dem ich reichliche 100 S. vorgelesen, will ich mir merken, aber nicht weiterlesen. Es ist ein großer kulturhistorischer Roman, aus dem ersten Viertel des 15. Jh s – Zeittafel ist angehängt, im Erzge u. Erz- u. Elbgebirge (Gottleuba etc.) spielend, Schwerpunkte Meißen, Dohna, Dresden, Prag. Eisen- u. Silberbergbau, von Einzelnen, von Gewerkschaften, klein bürgerlich betrieben; Bauern vom Klerus, von Adelsherren bedrückt, antiklerikale Stimmungen, wirrste Kleinstaaterei, Spannung: tschechisch – deutsch. Später geht das offenbar in große Politik insbesondere in Hussitenkämpfe über. – Aber alles dies ist bei größter Anschaulichkeit einzelner Scenen, oft allzugroßer Anschaulichkeit, denn jede Aktion wird in hundert Handgriffe zerlegt, die mit Fachworten, mit altertümlichen Worten geschildert ist – alles das ist verwirrend dargestellt, nach 100, von 600 Seiten herrscht noch nicht die entfernteste Klarheit, zumal immerfort Andeutungen großen u. kleinen historischen Geschehens – König u. Gegenkönig, drei Päpste, * Wicliff, 1 Markgrafen, Erzbischöfe, Burgherren – in die privaten Verhältnisse hineinfallen. Und alles das ist in einem unerträglichen Hackepeterstil geschrieben, an dem die Zunge zerbricht, u. der offenbar simplistisch-primitiv sein will: eine ständige Coordination von ganz kurzen Sätzen ohne Nebensätze. Nie eine Periode, ein Fluß, immer ein Gestamel. Und alles, all die 600 Seiten im Praesens. Es gibt keine Interpunktion außer dem Punkt, kein Tempus außer dem Praesens, wahrscheinlich keine größere Satzlänge als 6 Worte. Das ist nach kürzester Zeit eine Tortur.
    In alledem ist mir eines wertvoll, u. es scheint sich, wie ich im Blättern sah, sehr bedeutend, beinahe central, herauszuheben: das Judenthema , Jud Sohre, der mit den Seinen von Prag nach Dresden übersiedeln darf. Bei scheinbar historischer Objektivität von Anfang an u. immer stärker judenfeindlich gehalten. Der Jude macht sich unter Vorspiegelung eines Wagenunfalls an die Deutschen heran, er sucht sofort zu kaufen, Vieh usw. Der Jude kommt nicht allein, sondern mit einer Unzahl Gefährten. Seine Familie, die kinderreiche, ist eine ganze Sippe, Verwandtschaft u. Dienstleute gehören dazu, etliche dreißig sind sie, ein ganzer Stam, der sich sofort ausbreiten, der sofort Besitz ergreifen will. Sie sind kurzbeinig, sie füßeln, sie quirlen, quieken, lärmen, drängen – man muß sie mit der Peitsche bedrohen, um sie im Zaum zu halten, worauf sie dann an christliches Mitleid mit den Kindern Israel klagend appellieren. Der Held des Romans, der Mönch werden sollte u. Bauer u. Krieger sein will, Hans Horn[,] mag gar nichts mit ihnen zu schaffen haben. Sie mauscheln natürlich, so oft sie sprechen. Und in der Folge, das sah ich im Durchblättern, verraten sie deutsches Gebiet an die Hussiten u. scheinen zuletzt in die Tschechei zurückgejagt zu werden. – – Der Autor ist gewiß ein Könner, bestimmt aber ein manirierter Artist. Er dürfte unter den nationalsozialistischen Sudetendeutschen einen großen Namen haben, aber kaum in die Allgemeinheit gedrungen sein; dazu ist er viel zu schwerverständlich, viel zu sehr Regionalist der Historie, u. darauf weist auch der unbekannte Verlag hin. Er dürfte vor dem Krieg publiziert haben, etwa 1938, 1 denn später hat es an Material u. Menschen gefehlt, ein so umfangreiches belletristisches Buch zu drucken. – Nachforschen .. wenn ich noch einmal zum Nachforschen kome. –

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