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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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seine Sorgen, die überlastete Chefin etc. – Aber so ganz genau wissen wir selber nicht in den Schernerschen Seelen Bescheid. Jedenfalls complexe Gebilde.
     

 
    Mittwoch 21 März 45 Falkenstein
     
    Vorm. Nachts 3–5, also wirklich zum Frühlingsanfang hatten wir Vollarlarm . Zwei Stunden außerhalb der Betten, immer wieder in dieser Zeit, nicht tief u. nahe aber doch bedrohlich, das Summen über uns. Verbände aus Thüringen im Anflug auf Sachsen gab mir ein junges Mädchen von den Hausbewohnern als Funkmeldung an. Es muß sich wieder um große Angriffe gehandelt haben. Wir saßen die längste Zeit in der Nähe der Flurtür an der Laborküche zusammen mit dem * Frl Dumpiers vom Nachtdienst. Sie ging tastend aus sich heraus. Das endlose Elend – ob denn die Fortsetzung des Krieges Sinn habe – warum, wenn nicht, betrüge man das Volk? Ich sagte, Defaitisten würden erschossen, u. dies sei nun einmal Kriegsrecht. Sie kam allmählich mit starken Zweifeln an den natsoc. Lehren heraus. Sie erzählte, ihre Großeltern könnten nicht deutsch, sprächen nur litauisch, sie erzählte von der Unterdrückung der Litauer durch die Deutschen. Da war es dann sehr leicht, ihr von der Praepotenz der Germanen zu sprechen. Von dem Vom Wesen der Propaganda, des Auf-einen-Nenner-Bringens. Sie bog der Judenfrage zu. Ich wich vorsichtig aus. Wer sage: der Deutsche, der Pole, der Jude, habe immer Unrecht. Ich sagte ihr, was katholisch bedeute: für alle . Ich zog mich aber immer darauf zurück, daß der Kriegführende nicht objektiv sein könne , Kritik an seinem Regime unterdrücken müsse . Es war ein Eiertanz. Amüsant das letzte Wort des Mädels. Sie sehe das alles ein, sie glaube an das Recht aller Völker, die Überheblichkeit u. Verrohung in Deutschland sei ihr zuwider – nur die Juden hasse ich, da bin ich doch wohl ein bißchen beeinflußt . Ich hätte sie gern gefragt, wieviele Juden sie kenne, unterdrückte es aber u. lächelte bloß. Und merkte mir selber an, wieviel demagogische Berechtigung der Natsoc. hatte, als er den Antisemitismus ins Centrum stellte.
    – – In den Leipziger N.N. vom Sonntag d. 18/III – 4 Seiten zu Ehren des Sonntags – steht ein Hs. gezeichneter Leitartikel, also von * Harms in Dahlem geschrieben: Die Menschenhändler von Jalta. 1 Die Nordamerikaner haben unter * Lincoln die Negersklaven befreit, u. jetzt wollen sie die Deutschen in bolschewistische Sklaverei (zu Aufbauarbeiten) verkaufen. Sie wollen Deutschland u. Japan versklaven, aber Deutschland muß u. wird Europa verteidigen ... Soweit ist das der heute u. hier übliche Dreh u. wäre einem alten Journalisten als Kriegsnotwendigkeit allenfalls zu verzeihen, obwohl Harms natürlich wissen muß, daß die Freiheit des europäischen Lebensraumes nationalsocialistisch gesehen nichts anderes ist, als deutsche Ellbogenfreiheit, gegen die sich Frankreich, England etc. etc. etc. sträuben. Nun aber: Moskau soll der Sitz der ‹Tributcommission› werden, ein Jude ist zu ihrem Vorsitzenden bestimmt. Damit werden die Mächte gebührend hervorgehoben, die in Jalta das entscheidende Wort gehabt haben: Der Kreml u. das Weltjudentum. Und nachher noch einmal, USA sei in die Irre geleitet von seinem * Praesidenten u. dem ihm versippten u. verbündeten Judentum. Harms muß wissen, er muß es wissen, wie sehr er turnt, auf einen Nenner bringt, lügt . Es gibt keine Entschuldigung dafür. Wenn ich denke, wie er 1918–20 für mich eintrat, mich als seinen Mitarbeiter, seinen Gesinnungsgenossen liebte u. propagierte ... Er ist geradezu ein Repraesentant des Verfalls u. der Verräterei deutscher Intelligenz, deutscher Sittlichkeit. –
    Unten bei Scherner liegt das Handbuch für die Apothekenhelferin , hg. von der Apothekerkammer 1941 . Daran ist das Datum ungemein wichtig. Die natsoc. Wendungen u. Phrasen der Einleitung zeigen nur die allgemeine Gleichförmigkeit u. Armut der LTI. Natürlich muß das junge Gefolgschaftsmitglied charakterlich einwandfrei sein, natürlich gehört es zur großen Schicksalsgemeinschaft unseres Volkes, muß es aufgehen in der Gemeinschaft, natürlich ist immerfort vom Einsatz die Rede, von natsoc. Führung, natürlich heißt es nie die Apotheke schlechthin, sondern stets die deutsche Apotheke . Aber zwei Sätze lassen die ganze Hybris des Jahres 41 hervortreten – Frkr. besiegt, England ohnmächtig, USA noch neutral, u. Rußland unser Verbündeter! – Der Hg. fragte sich, ob man auch nach dem Krieg Verwendung für

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