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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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alleinstehend mit seiner Philosophie u. ohne persönliche Gönner u. Anhänger, hat einen Ruf an eine obskure Balkan-Universität angenommen, mag nun aber doch nicht in dieses Exil gehen, wo ihn niemand verstehen wird u. beschließt Selbstmord. Im letzten Augenblick – das ist hübsch u. beinahe humoristisch erzählt, führt ihn die Begegnung mit einer jungen Dame ins Leben zurück. Erotik u. Sichkriegen werden in den Hintergrund u. Ausblick verdrängt u. durch philosophische Bedeutsamkeiten würdig verschleiert. – Was mich daran interessiert ist nun dies: Der Philosoph ist schwerfälliger Norddeutscher, das Fräulein aus hohem altem oesterreichischem Adel. Sie ist sehr offenherzig, freimütig, burschikos, herzlich, dabei vollkomen selbstsicher; sie weiß um das deutsche Mißtrauen gegen oesterreichische Leichtigkeit u. Herzlichkeit. Sie ist eigentlich genauso, u. genauso gezeichnet , wie oesterreichische Aristokratie von * Schnitzler gezeichnet wird. Nur daß bei Schnitzler alles in Skepsis u. Ironie gehüllt ist, trotz allem Sympathisieren. Und bei Kolbenheyer bekomt nun die gleiche Menschenart eine durchaus positive u. lobende Censur; ihm ist das überlegener, vorbildlicher, vorbildlich kultivierter Menschenschlag. Die Baronesse Warthängen hat durch die Revolution ihren Adelstitel verloren; das gibt ihr eine tragische Gloriole, das stellt sie mit dem verkannten Professor Arthaber auf Gleich u. Gleich ... Manches Wort über Bluterbe u. Tradition deutet an, weßhalb Kolbenheyer vom Natsoc. propagiert wird. – Wichtig: die gleiche Menschenart u. = klasse, ganz gleich gesehen u. gezeichnet, von beiden Autoren sympathisierend gezeichnet, u. doch so absolut anders bei Schnitzler u. Kolbenheyer. –
    Eben in den Leipziger NN vom 21.: * Börries v. Münchhausen 1 16. III.45 (geb. 1874). Der Nachruf ist in seinem Bewundern moderato. 2 Von Juda ist nicht die Rede. 3 – Meine Münchhause = Briefe sind verbrannt 4 .
    15 h . Nach dem Essen bei * Petersen-Lorenz (jämerlicheres Publikum als bei Meyer, mir nicht ganz so furchterregend, Gott weiß, warum), kam Alarm , nur kleiner, genannt Voralarm, der genau eine Stunde dauerte, 12 30 –13 30 . Ich las vor, * Eva schlief ein, ich las für mich, Eva wachte auf, u. ich las wieder vor: * Wassermann , * Gravenhorst , 5 Wassermann. Aber bei alledem habe ich doch immer den Hintergedanken: wie spät? wann ist der Tag wieder zuende? Wenn wir Abends in das Privatcontor u. Schlafzimmer herunterkomen, glaube ich mich für ein reichliches Dutzend Stunden außer Gefahr – von den Fliegern natürlich abgesehen. Und dann: da unten ist immer gleichmäßige Wärme. Und hier oben fröstle ich immer. Der kleine Eisenofen, selbst wenn er geheizt ist, u. das ist nicht immer der Fall, gibt nur kurze Zeit u. sozusagen partielle Wärme. Eva liegt meist unter ihrem Pelz, von dem schon große Stücke enthaart sind, während ich bloß so beim Lesen sitze u. zwischendurch eine Weile auf dem Stuhl schlafe. Und dann: am Abend sage ich mir immer: nun haben sie sich wieder einen Tag länger an der Front u. im Reichs innern innern erschöpft, nun müssen sie, sie müssen wirklich der Katastrophe um einen weiteren Tag näher gerückt sein, u. ich lebe noch immer. Also ist meine Chance auf das Überstehen gewachsen.
    An die Hungerei habe ich mich schon mit einer gewissen ständigen Dumpfheit des Magens gewöhnt; dagegen macht mich das Warten auf die Gestapo oder die Bombe, vor allem auf die Gestapo, jeden Tag mürber. Und E. wird immer dünner u,. elender, die in Piskowitz angegessenen 4
tb
sind hin, u. sie ist erneut bei 100 angelangt. Dazu viele Schwächeanfälle u. Herzschmerzen. Während mein Herz merkwürdig Ruhe hält u. mein Gewicht beschämend hoch bleibt.
     

 
    Freitag 23/III. 45. Falkenstein
     
    Morgens . Gestern Nachm. – diesmal bei schönstem Vorfrühling, neulich unter kalten Regenschauern – wieder nach Grünbach . Die Landschaft gefiel mir fast noch besser als das erstemal. Diesmal entdeckten wir auch, am Eingang des Ortes besonders, ein paar Äcker u. ein paar Dorfhäuser, Reste des von der Kleinbürger-Industrie aufgefressenen, verstädtischten Ortes. * E. fühlte sich recht elend; wir saßen vor dem Nest auf den Baumstämmen einer riesigen mit gefällten Bäumen dicht bedeckten Lichtung, die Waldhügel uns gerade gegenüber, und gingen dann nur bis zur Tanne, dem vorderen Gasthaus. Dort, beim Kaffee, hörten wir den Heeresbericht, jeder Tag bringt den Gegner (u. Erlöser) einen

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