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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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besonders vorsichtig. Hat sie Angst vor uns? Wir haben jedenfalls den Eindruck, daß sie uns wesentlich ferner steht als er. Er schließt sich in Arbeitspausen immer wieder an uns an, spricht mit größter Erbitterung von der Notwendigkeit, dieses Regime blutig zu beseitigen, malt sich das wollüstig aus – hat freilich gleich darauf unendlich viel Nachsicht für * Harms u Genossen. – –
    Der 14 30 begonnene Alarm hat, ohne in Vollalarm überzugehen, bis 16 50 gedauert. –
     

 
    Donnerstag 22. III 45 Falkenstein
     
    7 h. Privatcontor . Alarmfrei ruhige Nacht, drückende Hoffnungslosigkeit beim Erwachen. Es dauert zu lange.
    Unangebrachtes Feingefühl: Trude Sch s Art, uns angstvoll zu meiden, die immer schroffer hervortritt, quält mich sehr. Eine ganz ferne Erinnerung taucht hoch, die mich * Bertholds krampfig deutsch-correktes Benehm Haltung 3 verzeihender auffassen läßt. Er studierte zur * Stöcker- * Ahlwardtzeit, suchte ins aktive Student[ent]um zu entkommen. Ich selbst habe die Ahlwardtwelle nicht zu spüren bekomen. Er sagte mir einmal, u. ich höre noch das Schaudern in seiner Stimme: Weißt du, dieser Antisemitismus, der vor dem Juden zurückweicht, wie wenn er körperlich stinkt ... –
    Wir machten gestern am späten Nachmittag einen Weg zum Bahnhof hinüber u. tranken dort im vollen Wartesaal Kaffee zum mitgebrachten Brodstück. An dieser Stelle hat der Ort doch auch Tiefenausdehnung, mehrere Parallelstraßen, einen großen Platz. Was außer den Gardinenstickereien u. ähnlichen Textilbetrieben – kleinbürgerlichen, mittleren Unternehmen, Nichtfabriken u. Dochschonfabriken, auffällt (u. neben der Unzahl der Fleischer), sind die Sekten . Ich bin nun schon drei verschiedenen Gemeinde- oder Betstubenschildern begegnet: Adventisten, Bethlehem-Leuten u. noch einer Gruppe, deren Namen ich vergessen habe.
    Auf dem Bhf plauderte zutunlich, verbittert u. absolut defaitistisch eine ältere Frau aus Tilsit mit uns, halbstädtische Besitzerin eines kleinen Anwesens, das sie uns mit allem Getier u. Ertrag beschrieb, in Sorge um zerstreute Angehörige in Königsberg, in Stettin, an der Front. Wenn [s]ie nur ein bisschen Intelligenz haben, müssen [s]ie doch wissen, wie das ausgeht. Aber vorher läßt man uns alle zugrunde gehen. – Man hört hier sehr viel Ostpreußisch sprechen. Ostpreußen u. Schlesier bilden den Hauptbestandteil der hier Untergebrachten. Trecks aus Schlesien – die Planwagen oft mit Tannenzweigen getarnt – ziehen noch immer durch.
    Am Abend gingen wir noch einmal aus, zu Suppe u. Kartoffelsalat bei Meyer. Wir hörten den Heeresbericht. Schrittweise schieben sich die Angloamerikaner an den Rhein – Koblenz, Bingen genomen –, schrittweise komen auch die Russen vorwärts, aber es geht nervenzermürbend langsam, u. die eigentliche Schlußoffensive, auf das Ruhrgebiet, auf Berlin, steht immer noch bevor. Vorher hörten wir Bruchstücke eines Vortrags über Ernährungslage u. neue Anordnungen für das Landvolk ( LTI ), die notwendig seien, um die Vorräte bis zur neuen Ernte zu strecken. (Schlachtung von Geflügel u. Kaninchen, Gemüsebau etc.). Es wurde uns deutlich, wie absolut aussichtslos das ist: wie will man ohne Ostdeutschland Nahrung genug haben? Aber trotz alledem u. wider alle Natur: die Front hält, das Volk hält still, es geht zu langsam, für uns zu langsam.
    Dabei immer das gleiche Recept der Hetze u. Aufpeitschung, die gleiche Armseligkeit der LTI. In den Leipziger NN Nachrichten über die Bestialität der anglo-amer. Truppen u. Behörden, die der bolschewistischen Bestialität um nichts nachstehe. In Köln, im Rheinland raube man Kunstschätze aus Privatbesitz. Die aussuchen[den] ‹Kunstsachverständigen› (guillemets ironiques 1 ) seien meist Juden , der Raub vollziehe sich auf echt jüdische Art . Als wir gestern zum Mitttagessen am Rathausplatz vorbeigingen, predigte der dortige Lautsprecher gerade gegen den jüdischen Polizeicommissar von Köln. Das Radio beim Abendbrod erzählte, die Deutschen in den besetzten Gebieten müßten noch viel mehr hungern als die im unbesetzten Reich, die Feinde wollten sie ausdrücklich verhungern lassen, ausdrücklich u. absichtlich.
    9 h oben * Kolbenheyers Begegnung auf dem Riesengebirge sagt mir im Ganzen gar nichts, teils weil ich sein philosophisches Gerede zur Hälfte nicht verstehe, zur andern Hälfte für Schwulst halte, teils weil mir das Thema unwesentlich erscheint. Ein Dozent oder Titularprofessor der Univ. Breslau,

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