Klemperer, Viktor
wartete in Falkenstein nur auf den nächsten Zug. Lange könne es ja nicht mehr dauern, in wenigen Wochen sei bestimmt alles zuende, im Westen u. im Osten. Man hätte das voraussehen müssen .. Die vielen Toten in Plauen. Bunker gibt es natürlich nur für die großen Herren. Und wie man mit den Toten umgeht! Die komen in zerreißende Papiertüten, Kopf u. Füße platzen heraus. Aber als es neulich das Gestapohaus erwischte u. die Gestapo 7 Tote hatte (cf. Bericht * Honigmann!) – da waren natürlich sieben Särge gleich requiriert, für die , ja für die ist gesorgt, die haben alles ... Das arme Plauen, 120 000 Einwohner, es waren auch schon 130 000. So viel Ausländer bei uns, so große Firmen .. Die Judenhetze hat das heruntergebracht, es waren so große jüdische Firmen da, die Judenmorde ... Hat man bei Ihnen den * Mutschmann auch so gern? Wir in Plauen kennen ihn, er war von allen Spitzenfabrikanten der schlechteste Arbeitgeber bei uns .. Wer kann ihm heute noch was nachsagen? Die beiden Juden * * Brandis wußten genau Bescheid, sie abe das ganze Aktenmaterial an den Redacteur * Fritsch von dem sozdem. Blatt – wie er die Sendungen aus Frankreich verschwinden ließ, sich aneignete – er hat kein Wort erwidert, er konnte nicht. Aber nach der Machtübernahme, erst haben sie den einen Juden geholt, man hat ihn tot aufgefunden, dann ist der andere Jude verschwunden, u. zuletzt ist der Redacteur verhaftet u. beim Fluchtversuch erschossen worden ... Aber nun kann es nicht mehr lange dauern, noch ein paar Wochen höchstens .. Bloß was wir inzwischen leiden! .. Was waren doch * Hindenburg u. * Ludendorf für edle Leute! Als sie sahen, daß es aus sei, machten Sie auch Schluß u. ließen uns nicht unnötig weitermorden. Aber die ! Bloß um noch ein paar Wochen länger zu regieren ... Plauen, das war in den neunziger Jahren conservativ, danach freisinnig, später socialdemokratisch ... Die Arbeitslosigkeit u. die Frauen, u. die Nationalsocialisten haben ja so vieles versprochen, den kleinen Gewerbetreibenden, den Arbeitern, allen! Und der Zwang, der bei den Wahlen ausgeübt wurde! Die Angestellten kriegten den Zettel in die Hand gedrückt, u. mußten! Ja, Plauen ist die ‹ Hochburg › der Natsoc. geworden, in Plauen haben sie zuerst die HJ. gegründet .. Lesen Sie den Reichsbankausweis? Der wird immer ganz klein gedruckt. 52 Milliarden Schulden! Aber in ein paar Wochen ist es nun ja zuende. Wenn man bloß das Leben behält ...
Der Mann war sicher Inspector oder irgend sonst ein mittlerer Angestellter einer großen jüdischen Textilfirma gewesen, dazu Sozialdemokrat u. wohl ein Funktionär seiner Partei, denn er wußte in der Parteigeschichte Bescheid (sprach von * Bebel, von * Liebknechts Erschießung) u. gebrauchte politische Clichés wie Hochburg. Seine Zuversicht tat mir unendlich wohl.
Freilich – diese freilich sind ja jetzt das A u. O meines Denkens u. meiner Stimmungen – lernten wir am Abend ein seltsames Gegenstück kennen. Da saß bei Meyer (u. wurde schuld daran, daß wir so spät heimkamen) ein älterer Soldat, 1905 geboren, in Wien, der mit gleicher Zutunlichkeit u. Gesprächigkeit, Gott weiß wieso, uns unaufhaltsam die innere politische Geschichte Deutschösterreichs von 1919 – damals war ich 14 Jahre, u. seitdem bin ich immer dabei gewesen – bis zur Machtübernahme erzählte. Und zwar immer vom Standpunkt des kämpfenden Sozialdemokraten u. confessionslosen Gegners der Christlich-Sozialen. Der Mann machte gar kein Hehl daraus, daß er noch Sozialdemokrat sei, u. daß die Natsoc. sich 1938 Wiens nur durch Gewaltdrohung – 500 vollbeladene Flugzeuge über der Stadt! – [bemächtigten die Herrschaft erlangt ] u. gar keine weitreichenden Sympathieen vorgefunden hätten. Wir haben nicht gekämpft, wir wollten nur Ruhe u. Arbeit haben, u. die Natsoc. haben uns nicht verfolgt u. haben uns angestellt u. arbeiten lassen. Er sagte auch kein Wort darüber, wie nahe das auch gelegen hätte, daß er jetzt wärmer über die NSDAP denke. Das war 1938, u. 39 kam ja schon der Krieg. (So wie man sagt: da war ja dann nichts mehr zu machen.) Aber, dieser alte Sozialdemokrat, der weder ein begeisterter Nazi noch ein begeisterter Soldat war, der nur Frieden u. Arbeit wollte, der sagte mit ruhiger Überzeugung: Wirklich besiegen können sie uns ja nicht an der Front, deßhalb haben wir jetzt die Terrorangriffe. Es wird nicht ewig dauern. Es laufen noch sooo viele Soldaten hier hinten herum, u. was die andern bis
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