Klemperer, Viktor
Centimeter vorwärts, einen im Westen u. einen im Osten, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Bericht nannte unter den besonders betroffenen Terrororten 6 Plauen . (Es werden längst nur noch die ganz ausradierten Städte im Heeresbericht erwähnt.) Somit mag Plauen erledigt sein, u. vielleicht hängt es damit zusamen, daß wir auch gestern Abend u. heute Nacht, nun also schon die zweite Nacht, von Alarm verschont blieben ... Untermittelbar vor dem Ortseingang, rechts, also westlich, am Waldrand, liegt der Lochstein, ein isolierter Felsen, ähnlich dem am Schloßplatz. Eigentlich sind es zwei Steine: der unten trägt ein breites Plateau, über dessen hinteren Rand der zweite spitz u. ziemlich phantastisch, nur von frühgeübten ansässigen Kindern zu erklettern, aufgetürmt ist. Auf dem Rückweg schlängelten wir uns eine Weile auf den Waldpfaden, ganz richtig durch Schonung, jungen u. höheren Nadelwald u. landeten dann im Bogen, von oben her, auf dem besagten Plateau. Ein sehr weiter Blick nach Norden u. dem sonst meist verdeckten Westen. Wellige Ebene, Höhenzüge, aber alles verschwamm im gelblich rosigen Dunst, es war dicht vor Sonnenuntergang. Wir beschlossen, am heutigen Vormittag noch einmal dorthin aufzusteigen,. –
Gegen 9 h oben . Wir sind sehr verlassen u. beiseite geschoben von * * Sch. s. Ihn, der sich herzlich um uns bemüht, sahen wir gestern nur morgens, dann den ganzen Tag nicht. Sie isoliert sich geradezu feindselig. Und dumm, denn es muß auffallen. Sie ist jeden Nachmittag in der Apotheke tätig, sie hat in all den 2 ½ Wochen uns noch nie in dem Zimmer hier oben aufgesucht. Sie hat uns nie aufgefordert zu ihr zu kommen; als wir neulich zum Büchertausch u. während des Alarms bei ihr waren – ich habe ja ihr Benehmen in diesem Fall notiert. – Die nationalsozialistischen * * Dettkes haben ein Sanatorium bei Glatz, an dem sie beide als Ärzte wirkten. Frau D. hat sich merkwürdiger[weise] Hans Sch. gegenüber absprechend u. unser Urteil voll bestätigend über die Balten geäußert: sie seien vor lauter Herrschsucht überaus faul. –
Der Tod * Münchhausens geht mir durch den Kopf, natürlich egoistisch: irgendwann, durch irgendwen (ich glaube in Rochlitz) hat er mich ein paar Jahre nach unserm Briefwechsel grüßen u. auffordern lassen, ihn in Windischleuba zu besuchen. Ich werde mir darüber nie mehr Klarheit verschaffen können, diese Tagebücher sind in der Zeughausstr. verbrannt. Ebenso (bei * Thamm) seine Briefe an mich.
Ich habe mich im * Maurizius sehr warm gelesen u. lese viel vor. Über ein paar Punkte will ich mir heute schon Notizen machen. Wenn ich lebe u. gesund bin, sagte der * Vater. Wenn es die Bomber u. die Gestapo erlauben, sage ich heute. Der Hunger, die Bomben – ich wollt sie im doppelten Maße auf mich nehmen, wenn nur das immer stärker quälende Gefühl des Verfolgtseins wegfiele. Ich muß täglich mehrmals im Restaurant sitzen, u. jede Minute dabei ist Tortur. (Auf der Straße, beim Wandern u. hier fühle ich mich – im Allgemeinen, immer auch nicht – ein bißchen geborgener.[)] Jeden Menschen fixiere ich daraufhin, wie weit er Funktionär oder Ähnliches sein dürfte.
Abends, unten, gegen 22 h . Sehr aushäusiger Tag, obschon ich Vormittags u. am späten Nachm. viel Maurizius vorlas. Um ½ 12 gingen wir zum Lochstein . Frontal sieht er ein bißchen anders aus als gestern beschrieben: Holzstufen führen zu dem Plateau, was mir gestern als hohe Rückwand erschien, liegt jetzt als Seitenwand da, der an der anderen Plateauseite eine niedrigere Felserhebung entspricht. Der Blick in die Weite war kaum klarer als gestern, aber wieder weit u. schön. Das Schildern im Einzelnen werde ich nie lernen, sowenig wie die Philosophie. Kaum standen wir oben, gab es Vollalarm , der ganze zwei Stunden, von ¾ 12–¾ 2, dauerte. Wir gingen in westl. Richtung ein Stück zwischen Wald u. Wiese u. setzten uns auf eine Bank unmittelbar am Waldeingang. Es war der erste warme Frühlingstag – im Zimmer natürlich noch kalt –, die Sonne beschien uns sehr angenehm. Nach einer Weile setzte sich ein älteres Ehepaar zu uns u. begann zutunlich u. erstaunlich vertrauenselig zu plaudern.
Sonnabend 24/III 45 Falkenstein
Morgens, nach ½ 7, unten . Gestern Abend allzu müde. Die Nacht fliegerfrei ruhig. –
Das Ménage – er redete, sie bekräftigte die wesentlichen Stellen, flüchtete für ein paar Erholungswochen aus dem furchtbar mitgenommenen Plauen aufs Land,
Weitere Kostenlose Bücher