Klemperer, Viktor
neulich erzählt .. Aber warum komt Trude nie zu uns herauf, warum vermeidet Sch. selber jedes aufklärende Wort? Und ist es nicht töricht der Dettke gegenüber, muß es nicht geradezu ihren Verdacht erwecken, wie man uns fern hält? Ich fühle mich gedemütigt u. erbittert. Widerum: Sch. gibt mir Quartier, er redet uns zu bis Ostern zu bleiben, er will uns dann Geld, 500 M., zur weiteren Flucht leihen, er hilft mir mit Schreibpapier u. Süßstoff aus, u. er weiß genau, daß er sich mit alledem gefährdet, beinahe tötlich gefährdet. Das Ganze liegt mir mit gemischten Gefühlen sehr schwer auf der Seele. Und immer wieder die Trostlosigkeit des Gedankens, daß schließlich alles, die Demütigung, das Sichherumdrücken, der Hunger, die ewige Todesangst, das ewige Gefühl verfolgt zu sein – daß schließlich alles umsonst sein u. mich, u. vielleicht gar * E. auch, die Kugel erwarten möchte.
Wir aßen nach dem Alarm bei Meyer, ich räumte unser Zeug herunter u. las vor. Jetzt schläft E.
Erste Notiz zu * Wassermann s Fall Maurizius. Copyright 1928 Ed. 1 Gesa m elte Werke .
Wann spielt der Roman? Bei einer so exakten Criminalhandlung ist jedes Datum wichtig. Eine eindeutige Antwort ist aber nicht mit aller Genauigkeit zu geben.
Festgehalten wird durchweg, daß der Prozeß 1905/6 spielt. Der alte Maurizius sagt (S 75), nach 1909 habe mahn ihn vielfach interviewt, jetzt sei es aber seit 12, 13 Jahren still geworden. Das ergäbe als Gegenwart ca 1922 . – Andergast p. 2 läßt sich die Akten von 1905/6 vorlegen (150), das ist 18 Jahre her (153), damit käme man auf 1923 od. 1924. Maurizius L. sagt im Gefängnis, Andergast habe ihn vor Gericht am 21. 8. 1906 porträtiert (290), u. das sind ist 18 (auch 18 ½) (299) Jahre her. Damit komt man auf 1924 oder 1925. (Die Inflation war Somer 1923 – muß man sie berück sichtigen sichtigen? Die Generalin erwähnt sie bei ihren Rechnungen nicht.)
Für mich ist ungemein wichtig der Generationsunterschied zwischen Etzel, dem 16jährigen u. seinem Lehrer Camill Raff, der 35 Jahre alt ist. Ich nehme als Moment der Handlung (u. des Gespräches zwischen Lehrer u. Schüler [‹]114 sq.[›]) 1924 an: dann ist Raff 1889 geboren , Etzel 1908 . Leonhard Maurizius * um 1880 (297). – Wenn ich an mich u. * Lerch oder * Janentzky denke, dann kann ich sehr wohl die Menschen der Jahrgänge 1880–1889 als eine Generation ansetzen, von der sich dann die kurz vor dem Weltkrieg Geborenen als nächste absetzen. Camill Raff meint von seiner Generation, sie habe gelebt mit dem Aufwand verbrauchter u. verwässerter Gefühle, lauter Literatur ... Wir haben es nicht sehr weit gebracht mit der Politik des Herzens .. das Herz ist zum zahlungsunfähigen Schuldner geworden (116). Leonhard M. sagt (297 sq.): Die um 1880 Geborenen waren als junge Menschen in einer üblen Lage. Vom Haus u. von der Schule bekam man alles mit, was man für das bürgerliche u. für das sogenannte höhere Leben brauchte, die Grundsätze u. die Ideale, die Monatsrente, wer die nicht hatte, zählte erst gar nicht mit, u. die Bildung. Aber es war alles löcherig u. fadenscheinig, nur die Rente, die war was Festes, das übrige war Talmi u. billige Imitation, von den Weihnachts- u. Hochzeitsgeschenken bis zur Begeisterung für Antike u. Renaissance, vom studentischen Komment u. den patriotischen Feiern bis zu ‹Thron u. Altar› ... Immer war beides möglich ... Daß man sich im Theater von * Hauptmanns Webern erschüttern ließ u. mit Genugtuung in der Zeitung las, daß auf die Streikenden im Ruhrgebiet geschossen wurde .. Romantik. Romantik ohne Boden u. ohne Ziel ... Maurizius u. Raffs Aussagen gehen zusamen: Sentimentalität, Unentschiedenheit, individualistisches Schwanken, Principienlosigkeit. – Dem gegenüber Etzel, Vertreter der neuen Generation.
Etzels Grundforderung heißt: sich mit den Dingen geistig auseinanderzusetzen; Stellung nehmen, Auswägung, Gewichtsbestimmung. Im Falle des Handelns dann: intellektuelles Erfassen, methodische Allmählichkeit ... Unmöglich, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wenn man nicht imstande ist, die Leidenschaft auszuschalten ..
Das wird sofort, sowohl vom * Autor als auch von Raff, von beiden Personen getrennt u. eindeutig ironisch genommen; u. tatsächlich wird ja auch Etzel von seiner Leidenschaft getrieben, u. hinter seinem überdimensionierten Verstand u. klaren Denken steht Gefühl, steht Unbewußtes: so verdächtig ihm alle Romantik war, so verwerflich alles Traumwesen,
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