Klemperer, Viktor
Agnes geschenkte), u. ich sitze in Ruhe u. Wärme an * Sch s Schreibtisch. Vorher habe ich mich früh in der Laborküche, die eben jetzt E s Waschküche darstellt, gründlich von Kopf zu Füßen säubern können – was mir bisher auf der Flucht alle 14 Tage bis 3 Wochen vergönnt ist –, und jetzt werde ich gar beim Schreiben u. Lesen ein warmes Fußbad exekutieren, das vielleicht der schuhgeschundenen Zehe ein bißchen hilft. –
Wir tranken gestern zuhause, d.h. hier im einsamen Privatcontor, Kaffee u. gingen erst am späteren Nachmittag auf Wanderung. Herunter in die Oststufe des Ortes, an Laubengelände, an einer großen Fabrikanlage, einem Barackenlager (für wen?), ein paar Felshöhlen (wahrscheinlich jetzt Unterstände für die Fabrikarbeiter) vorbei in den Hügelwald. Hier hatte die gewundene Straße nach der Göltzschmühle – 1,2 km, sagte der Wegweiser [–] im wesentlichen wohl Südrichtung. Der Weg bald unmittelbar von Nadelwaldwänden umgrenzt, bald an breiten Wiesen, breiten Lichtungen mit sehr viel geschlagenen Stämmen vorbeiführend. Überall geschlagenes Holz, wo nicht Stämme auf Lichtungen, da geschichtete Stümpfe am Wegrand, u. überall Leute mit Handwägelchen, die Zweige u. Abfall samln, u. überall Wasser, bald der eine stattliche Bach, bald ein seitlicher Zufluß, bald der Bach aus einandergefaltet zu breiten Rinnsalen über Wiesengelände, einmal mit richtigen kleinen Wasserfällen, u. überall das romantische Glucksen, dazu, vor dem Beginn des eigentlichen Waldes, Weidenkätzchen u. allererste winzige Blätter an den Sträuchern. Die Göltzschmühle selber, ein weitschichtiges Gehöft, ist nicht mehr Mühle, nur noch Gasthof; jenseits läuft der Bach zusamengefaßt u. stark u. breit fast wie ein Flüßchen zwischen hohen gleichmäßigen Fichten wie in einer Allee neben dem Fußweg. Hier machten wir kehrt, es begann schon zu dämmern, ein paar Minuten später lag der grüne Wald schwarz hinter uns trotz des starken Mondlichts.
* E. sagte u. sprach damit aus, was mir oft durch den Kopf geht: die doppelte Empfindung dieser Fluchtzeit gegenüber: man möchte immer auskosten, was sie – trotz allem – täglich an Schönem bietet, u. man möchte sie in ihrer Gräßlichkeit schon hinter sich gebracht haben, man möchte sie verschlafen können. Wie gesagt, ich empfinde auch immerfort beides, aber die Qual der ständigen Bedrohtheit ist mir doch unter allem Genuß gegenwärtig, u. der zweite Wunsch ist weitaus mächtiger als der erste. Wir aßen wieder doppelt zu Abend, in der Bierstube u. bei Meyer; das bedeutet: besser sattwerden, aber es bedeutet auch zweimal den gleichen Choc u. Angstzustand. – Bei Meyer hörten wir den Heeresbericht (acht Uhr Abends): Die Amerikaner haben einen zweiten rechtsrheinischen Brückenkopf bei Oppenheim (Mainzer Gegend?) gewonnen; sie oder die Engländer sind zum erwarteten Angriff am Niederrhein angetreten. Besonders dieses zweite klingt hoffnungerweckend; aber ich wage nicht mehr zu hoffen, der Krieg geht ja doch weiter, auch ohne Ruhrgebiet. – –
Während ich hier schreibe u. fußbade, kam um 10 45 eine Entwarnung. E. glaubt aus Gesprächen, die im Hausflur geführt wurden, nachträglich annehmen zu können, daß der von uns bei geschlossenen Fenstern überhörte kleine Alarm etwa eine Stunde vorher geblasen worden sei. Vielleicht daß wir auf diese Weise heute einmal an der üblichen Mittagsstörung vorüberkomen.
½ 12 Noch während ich beim Krallenschnitt, komt eben Vollalarm . – Dauerte genau eine Stunde. Beim Essen meldete dann das Radio: Der über Donau u. Böhmen gemeldete Kampfverband nach Süden abgeflogen. –
21 h Der Nachmittag brachte einen tragikomischen Zwischenfall, der zu einer gewissen Entspannung der Situation führte. Ich las den * Maurizius vor. Draußen klopfte es wie häufig. Informationsgemäß öffne ich nicht. Ich hatte den einen der schweren Riegel vorgeschoben. Das Klopfen wurde zum Hämmern, zum Sturm. Ich fürchtete Polizei. Schließlich öffnete * E. In äußerster Erregung, schwach, schlagflüssig, außer sich schreiend, stürzte * Scherner herein. Er habe geglaubt, hier sei ein Unglück passiert, niemals dürften wir den Riegel vorlegen, er müsse zu jeder Zeit eintreten können, der Vordereingang sei von außen am Sonntag unbenutzbar. Ich sagte ihm in ein paar Worten meine völlige Schuldlosigkeit, er hatte uns falsch oder unzureichend informiert, das Klopfen u. Telephonieren ist am Sonntag ständige Üblichkeit,
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