Klemperer, Viktor
etwas davon, Rudimente, nehme ich an, kam doch bei alledem zum Vorschein, wenn auch oft nur in Form von Widerstand.[] (244/5) (Übrigens sagt E. auch manchmal Gedichte vor sich hin, die er auswendig konnte, Verse von * Rilke u. * George 250)
Trotzdem nimmt Raff Etzels Bekenntnis zum intellektuellen Erfassen u. Handeln auch widerum ernst: Es dringt immer mehr in euch ein, das Dialogische, das Dialektische, u. infolgedessen komt auch etwas .. Uneinsames in euch ... Aber dieses, das Uneinsame, ist zugleich das Gewissenlose. Ich meine von einem großen Standpunkt aus. Indem die Verantwortungen cumuliert werden. Indem die Urheber einer Tat in der Masse verschwinden ... Aber .. das Gewissen hängt wieder mit dem Wissen zusammen, mit einer besonderen Art von Wissen, also auch mit dem Urteil u. Gesetz, die Sprache ist ja so tief, so weise ... u. wer will es ergründen, was an Gewissen notwendig ist, um zu handeln .. es sind da unzugängliche Schächte ... .. – Diese Jugend mit ihrer Methodik, mit ihrer ‹geistigen Auseinandersetzung›, mit ihrer ‹Stellungnahme›, scheußliches Wort, sie haben uns einstweilen gehandicapt, wie sie sagen, u. wir müssen froh sein, wenn sie noch einen Bissen Brot von uns von uns nehmen 115/16.
Ich lege das so aus: Zusammenhang zwischen Gewissen, Wissen u. Gesetz, Urteil wird sprachlich weisen , Weisung sein. Raff versteht unter Gewissen das individuelle Sich-zur- Verantwortung-ziehen. Bei ihm selber, bei Leonhart Maurizius ist zu viel schwankendes Wissen, um die beiden Möglichkeiten[,] um subjektive Berechtigungen, um den u. jenen Standpunkt. Der Entschluß zur scheußlichen ‹Stellungnahme› u. damit zum einlinigen Handeln fehlt. Die junge Generation dagegen sucht intellektuell, methodisch, unter Ausschaltung der persönlichen Stimmung generelle, für alle geltende, das subjectiv Persönliche (also das Gewissen in Raffs Sinn[)] ausschaltende[ ) ] Entscheidungen. Damit gelangt sie zum consequenten Handeln nach festen Maßstäben, nach schwankungsfreien Werturteilen. Was einzelne herausragende Köpfe an solchen generellen Werturteilen aufgestellt haben, das wird dann von der Masse der Mittelmäßigen, des Durchschnitts, gedankenlos, gewissenlos, bequem übernommen. Steht nun hinter dem klassischen Zustand des generellen Wertens u. festen Entscheidens ein führender Wille zum Handeln, dann wird die gesamte Masse in einheitliches, gewissenloses, stures, fanatisches Handeln gestürzt. –
Der Weg von der alten Romantik u. neueren Neuromantik zur Geisteshaltung der zwanziger (u. späteren) Jahre geht über neue Klassik, neuen Intellektualismus – cf. in Frankreich * Radiguet, 1 den Neuthomismus, 2 den rein intellektuellen Kubismus – neuen Willen zur Aktion. (Im Punkte der straffen Aktion beachte Raffs Sportausdruck gehandicapt!). Das Wesen des jüngsten Zustandes ist: Romantik in sture, gewissenlose Aktion umgesetzt, Fanatismus. Hierbei kommen gleichzeitig auf ihre Kosten: der Denkende u. die Nichtdenkenden, der Führende u. die Masse der Geführten oder Verführten. –
* Wassermann sieht also eine wesentliche Entwicklungslinie hier klar, u. Etzel Andergast, obschon eine Ausnahmegestalt an geistiger Bedeutung, obschon für seine 16 Jahre unwahrscheinlich klar u. überlegen, u. wohl nur als Juristenerbe erklärlich, ist in seinem (tatsächlich fanatischen) Willen zur moralischen Aktion auf unverschiebbarer geistig genereller Grundlage durchaus ein Repraesentant seiner Generation, die zu Bolschewismus, Fascismus, Nationalsocialismus gelangt. Diese Richtungen brauchen beides: das romantische Gefühl u. den klassisch generalisierenden Intellekt, aber sie müssen das individuelle Einzeldenken der Vielen abtöten, sie brauchen wenige Führende u. große Massen.
Es wird mir an dem Gegensatz Raff, Maurizius zu Etzel klar, wie man vom reinen Willen zum Intellektualismus u. von starker intellektueller Begabung her zum gleichen Zustand der Sturheit gelangen kann wie aus angeborener Denkfaulheit oder Stumpfheit oder aus erworbener Denkmüdigkeit. (25. II. 45)
Sonntag Vorm 25 März 45 Falkenstein
Die vorstehende erste u. wahrscheinlich mir auch wichtigste Notiz zum * Wassermann, von dem ich jetzt gerade die Hälfte vorgelesen habe, wurde zum größten Teil nach langem Brüten erst in den heutigen Morgenstunden fertig. Dies ist eine der Früchte unserer Sonntagseinsamkeit u. = herrschaft in den Apothekenräumen. * E. hält große Wäsche (u.a. mein anderes Hemd, nämlich das von *
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