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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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fragte. (Es stand aber nur der vorgestrige darin – den gestrigen haben wir nicht erwischen können.[)]
    11 h . * Sch. brachte um 8 h Nachrichten, die er aus dem engl. Funk hatte; danach standen die Anglo-Amerik. schon bei Würzburg 3 u. bei Fulda. Aber genau wußte er das nicht, er ist in diesen Dingen wie ein sechsjähriges Kind. Vor einer Weile war er hier bei uns oben, ein Besucher hatte ihm Wesentliches aus dem gestrigen deutschen Heeresbericht auf einen Zettel geschrieben: Aschaffenburg u. Limburg vom Feind besetzt. – Am stärksten berührten mich zwei Citate Sch. s aus dem englischen Funk: man sei dabei[,] Bayern abzutrennen, u., vor allem, Dies ist Ihre Karwoche, Herr * Hitler! – Daß die Situation sogar auf die stumpfen Deutschen zu wirken beginnt, dafür hatten wir gestern Mittag ein Zeichen. Vor dem Schaufenster mit der Deutschlandkarte am Rathausplatz stehen sonst nur wir allein. Gestern befanden sich dort mehrere Leute u. suchten Hanau u. Aschaffenburg, bis wohin der vorgestrige deutsche Heeresbericht das Vordringen englischer Panzerspitzen 4 gemeldet hatte. Sie müssen nicht anders als wir mit Staunen festgestellt haben, daß beide Orte ein gut Stück östlich über Frankfurt a/M hinaus liegen. – Ich schwanke immerfort zwischen stärkster Hoffnung u. stärkster Hoffnungslosigkeit. Die Westfront scheint nicht nur ge -, sondern gänzlich zer schlagen. Aber wenn sie sich an der Weser wieder fängt, so wie sich die Ostfront schon wiederholt neu gesetzt u. gefestigt hat? Und wenn Berlin trotz allem wirklich den Riesenigel macht? – Was wird mit uns beiden am 3. April, wohin? – – Zwischen der Frl. * Dumpies u. mir ist es täglich ein Um-den-Brei-Gehen. Sie ist ganz offenbar stark antinazistisch – warum sagt man dem Volk immer wieder, wovon man weiß, daß es nicht zutrifft? Warum mache man sich die Dummheit der Leute zu nutze? .. Die Russen, heißt es, seien von * Paulus u. Seydlitz * Seydlitz geführt .. Usw. usw. Sie erwartet jedesmal von mir Bestätigung, Bekräftigung, Aufklärung. Und ich, ohne nazistisch zu widersprechen, bin doch äußerst zurückhaltend u. vorsichtig. Dabei werde ich nie den Gedanken los, der mich ja seit Jahren quält: ich habe immer geglaubt, die Deutschen sind moins peuple 1 als die andern, geistiger, denkender, europäischer. Aber wo ist denn nun der Unterschied zwischen ihnen u. irgendeinem Balkanstamm oder den asiatischen Russen, den blutrünstigen Bolschewiken? Der einzige Unterschied ist der, daß die Deutschen ihre Grausamkeiten, ihre Dummheit sogar, pedantischer organisieren, methodischer, kälter u. also sündhafter durchführen als die andern. Nein, den Russen gegenüber gibt es noch andere Unterschiede; die Idee des Bolschewismus ist die humanere, die Wirkung des Bolsch. hat ein Riesenvolk aufwärts geführt, die Wirkung des Natsoc. hat das deutsche Volk um seine Bildung gebracht, die Grausamkeit des Bolsch. ist durch das Asiatentum der Russen u. als Rückstoß gegen die Grausamkeit des Zarismus zu verstehen u. halbwegs zu entschuldigen, die des Natsoc. durch nichts. – –
    17 h Gestern wollten wir durchaus dem Alarm zuvorkomen, er jagte uns in sehr zeitiges Mittagessen, auf sehr zeitige Wanderung. Nachher blieb der Alarm gänzlich aus: tagüber, Abends u. Nachts, auch heute hat es bis jetzt noch keinen gegeben. Wir machten eine mehr als fünfstündige wunderschöne Wanderung, halb Wiederholung, halb Ergänzung: am Lochstein vorbei den oberen (Wald = )Weg über Grünbach hinaus zum Wendelstein oder der Wendelsteinkante, die wir an mehreren Stellen bekletterten – der Blick war diesmal durch Verschleierung der Ferne gehemmt, trotzdem bedeutend genug, dann nach Grünbach, Südende, zum Gasthaus Wendelstein hinunter. Dort fanden wir die erwähnten Zeitungen, aber zum erwähnten 3 Uhr-Radio kamen wir zu spät. Weiter über die Bahnstrecke in den Wald hinab, der uns 14 Tage zuvor noch durch vereisten Schneematsch gehemt hatte u. jetzt bei einigen nassen Stellen im Ganzen gut gangbar war. Im Bogen nach links, nach Osten, ins Göltzschtal. Die Strecke von dieser Biegung bis zur Göltzschtalmühle war uns neu – Nadelwald u. Bach, so etwas beschreib ich nicht in seinen Varianten, aber ich empfinde es in seiner Schönheit. Und dann eben wie neulich von unten her nach Falkenstein zurück. All diese Stunden über, den ganzen Nachmittag bis gegen ½ 7, hörten wir in Pausen, aber immer wieder, sehr schwere, sehr ferne Einschläge – Nürnberg, sagt man hier immer.

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